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Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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von Wuchs, war das prächtigste von allen Reittieren und schien der Überzeugung zu sein, dass sie die anderen führen sollte. Wenn Tehanu sie nicht zurückhielt, schlängelte und drängelte sie sich fortwährend zwischen den anderen hindurch nach vorn, bis sie die Spitze gewonnen hatte. Die Stute kam sofort heran, als Lebannen sein großes Pferd zügelte, und so fügte es sich, dass Tehanu jetzt neben ihm war und dorthin blickte, wohin auch er blickte.
    »Der Wald brennt«, sagte er zu ihr.
    Er konnte nur die vernarbte Seite ihres Gesichts sehen, sodass es schien, als starrte sie blind; aber sie sah, und ihre Klauenhand, die die Zügel hielt, zitterte. Gebranntes Kind scheut das Feuer, dachte er.
    Welche grausame, hasenfüßige Narrheit hatte ihn gepackt, dass er zu diesem Mädchen gesagt hatte: »Komm, sprich zu den Drachen, rette meine Haut!« und es geradewegs ins Feuer geführt hatte?
    »Wir kehren um«, meinte er.
    Tehanu hob ihre gesunde Hand und deutete nach Westen. »Schau!«, sagte sie. »Schau!«
    Einem Funken gleich, der von einem Feuer aufstob und zu einer züngelnden Lohe schwoll, stieg ein Adler aus schierem Feuer über der schwarzen Linie des Passes auf: ein Drache kam geradewegs auf sie zugeflogen.
    Tehanu richtete sich in ihren Steigbügeln auf und stieß einen gellenden, durchdringenden Schrei aus, der klang wie der eines Meeresvogels oder eines Falken, aber es war ein Wort, ein einziges Wort: »Medeu!«
    Die riesenhafte Kreatur näherte sich mit ungeheurer Geschwindigkeit, ihre langen, dünnen Schwingen bewegten sich fast träge; sie hatte den Widerschein des Feuers verloren und sah schwarz oder bronzefarben im Licht des Morgens aus.
    »Passt auf eure Pferde auf«, rief Tehanu mit ihrer brüchigen Stimme, und just in dem Moment sah Lebannens grauer Wallach den Drachen und bäumte sich erschrocken auf, wild seinen Kopf hin und her werfend. Lebannen schaffte es, ihn wieder zu bändigen, aber hinter ihm stieß eines der anderen Rösser ein angstvolles Wiehern aus, und er hörte das Getrampel und die aufgeregten Stimmen der Pfleger. Der Zauberer Onyx kam gerannt und stellte sich neben Lebannens Reittier. Zu Pferde oder zu Fuß standen sie da und starrten gebannt auf den herannahenden Drachen.
    Wieder schrie Tehanu das Wort hinaus. Der Drache vollführte einen Schwenk, verlangsamte seinen Flug, schwebte heran, hielt inne und blieb etwa fünfzig Fuß von ihnen entfernt in der Luft stehen.
    »Medeu!«, rief Tehanu abermals, und die Antwort kam wie ein lang gezogenes Echo: »Me-de-uuu!«
    »Was bedeutet das?«, fragte Lebannen den Zauberer Onyx.
    »Schwester, Bruder«, antwortete der mit leiser Stimme.
    Tehanu, die bereits abgesessen war und Yenay die Zügel ihres Reittieres zugeworfen hatte, ging jetzt den Hang hinunter zu der Stelle, wo der Drache in der Luft stand. Seine langen Schwingen schlugen schnell und kurz, wie die eines Falken. Nur maßen diese Schwingen fünfzig Fuß von Spitze zu Spitze, und das Geräusch, das ihr Schlag erzeugte, glich dem einer Kesselpauke. Als Tehanu näher kam, entwich eine kleine Feuerzunge dem langen, mit langen Zähnen bewehrten Maul des Drachen.
    Sie hielt die Hand hoch. Nicht die schlanke braune gesunde Hand, sondern die verbrannte, die Klaue. Die Narben an ihrem Arm und an der Schulter hinderten sie daran, den Arm voll auszustrecken. Sie vermochte ihn gerade so hoch zu heben, dass er die Höhe ihres Hauptes erreichte.
    Der Drache ließ sich ein Stück fallen, senkte den Kopf und berührte ihre Hand mit seiner schlanken, schuppigen Schnauze. Wie ein Hund, der einen Artgenossen zur Begrüßung beschnuppert, dachte Lebannen; wie ein Falke, der sich auf dem Handgelenk seines Falkners niederlässt; wie ein König, der sich vor einer Königin verneigt.
    Tehanu sprach, der Drache sprach, beide kurz, mit ihren an den Klang von Zimbeln gemahnenden Stimmen. Ein weiterer Wortwechsel folgte, dann eine Pause. Dann sprach der Drache, diesmal länger. Onyx lauschte gespannt. Ein weiterer Wortwechsel. Rauch kräuselte sich aus den Nüstern des Drachen; darauf eine steife, herrische Geste mit der verkrüppelten, verdorrten Hand. Tehanu sprach klar hörbar drei Worte.
    »Bring sie her«, übersetzte der Magier im Flüsterton.
    Der Drache schlug hart mit den Flügeln, senkte den langen Kopf, zischte, sprach erneut und schwang sich dann in die Luft, hoch über Tehanu, machte einen Schwenk und schoss wie ein Pfeil nach Westen davon.
    »Er nannte sie Tochter der Ältesten«, flüsterte

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