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Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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der Stelle, wo der Drache gelandet war, hatten seine Krallen Furchen in den Marmor geritzt.
    Der lang gestreckte, golden geschuppte Kopf schwang herum. Der Drache blickte den König an.
    Der König schaute nach unten und wich seinem Blick aus. Aber er stand gerade aufgerichtet und sprach klar verständlich. »Willkommen, Orm Irian. Ich bin Lebannen.«
    »Agni Lebannen«, sagte die mächtige, zischende Stimme und begrüßte ihn, wie einst vor langer Zeit Orm Embar ihn begrüßt hatte, tief im Westen, bevor er König geworden war.
    Hinter dem König waren Onyx und Tehanu hinaus auf die Terrasse gerannt, zusammen mit mehreren Wachen. Ein Gardist hatte sein Schwert gezückt, und in einem Fenster des Königinnenturmes sah Lebannen einen weiteren Wächter mit gespanntem Bogen und eingelegtem Pfeil, der auf die Brust des Drachen gerichtet war. »Legt eure Waffen nieder!«, donnerte er mit einer Stimme, welche die Türme erbeben ließ, und der Gardist gehorchte mit solcher Hast, dass er fast sein Schwert fallen ließ, aber der Bogenschütze senkte seine Waffe nur widerstrebend; es fiel ihm schwer, seinen Herrn schutzlos preiszugeben.
    »Medeu«, sagte Tehanu leise, während sie neben Lebannen trat, den Blick fest und unerschütterlich auf den Drachen geheftet. Der große Kopf der Kreatur schwenkte erneut herum, und das riesige bernsteinfarbene Auge in seiner Höhle aus glänzenden, runzligen Schuppen blickte starr zurück.
    Der Drache sprach.
    Onyx, der seine Worte verstand, dolmetschte leise für den König. »Kalessins Tochter, meine Schwester«, sagte der Drache. »Du fliegst nicht.«
    »Ich kann mich nicht verwandeln, Schwester«, sagte Tehanu.
    »Soll ich es?«
    »Wenigstens für eine Weile, wenn du so gut sein möchtest.«
    Und dann sahen die, die auf der Terrasse und an den Fenstern des Turmes standen, das Merkwürdigste, was sie jemals sehen sollten, gleich wie lange sie auch leben würden in einer Welt der Magie und der Wunder. Sie sahen, wie der Drache, dieses riesige Geschöpf, dessen geschuppter Bauch und dornengespickter Schweif sich über die halbe Terrasse wälzten und dessen rot gehörnter Kopf doppelt so hoch aufragte, wie Lebannen an Körperhöhe maß - sie sahen, wie er seinen gewaltigen Kopf senkte und zu zittern begann, sodass seine Schwingen wie Becken schepperten, und wie nicht Rauch, sondern Nebel aus seinen Nüstern strömte, welcher seine Gestalt umhüllte, sodass sie erst milchig wurde wie verschrammtes Glas und schließlich ganz verschwand. Die Mittagssonne brannte auf die zerkratzten, verschrammten weißen Marmorfliesen nieder. Da war kein Drache mehr. Da war eine Frau. Sie stand etwa zehn Schritte von Tehanu und dem König entfernt, etwa dort, wo das Herz des Drachen gewesen sein mochte.
    Sie war jung, groß und kräftig gebaut, dunkelhäutig und dunkelhaarig. Sie trug das Hemd und die Hosen einer Bauersfrau und war barfuß. Sie stand regungslos da, wie verwirrt, und schaute an ihrem Körper herunter. Sie hob eine Hand und betrachtete sie. »So ein kleines Ding!«, sagte sie in der gemeinen Sprache und lachte. Sie schaute zu Tehanu. »Es ist, als zöge ich die Schuhe an, die ich trug, als ich fünf war«, meinte sie.
    Die beiden Frauen gingen aufeinander zu. Mit einer gewissen Erhabenheit, vergleichbar der von gepanzerten Kriegern, die sich gegenseitig salutieren, oder von Schiffen, die sich auf dem Meer begegnen, umarmten sie sich, hielten sich mehrere Augenblicke in den Armen. Dann lösten sie sich voneinander und wandten sich beide dem König zu.
    »Lady Irian«, sagte Lebannen und verneigte sich.
    Sie sah ein wenig verlegen aus und machte eine Art Bauernknicks. Als sie den Blick wieder hob, sah der König, dass ihre Augen die Farbe von Bernstein hatten. Er schaute sofort weg.
    »Ich richte in dieser Gestalt keinen Schaden an«, versicherte sie mit einem breiten, freundlichen Lächeln. »Eure Majestät«, fügte sie ein wenig stockend hinzu in dem Bemühen, höflich zu sein.
    Lebannen verneigte sich erneut. Jetzt war es an ihm, verlegen zu sein. Er blickte zu Tehanu und von ihr zu Tenar, die mit Erle auf die Terrasse getreten war. Niemand sagte ein Wort.
    Irians Blick glitt zu Onyx, der in seinem grauen Umhang direkt hinter dem König stand, und ihr Gesicht hellte sich abermals auf. »Herr«, fragte sie, »seid Ihr von der Insel Rok? Kennt Ihr den Meister der Formgebung?«
    Onyx verbeugte sich oder nickte, so genau war das nicht zu erkennen. Auch er hielt sein Gesicht von ihr

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