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Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Es war nicht der richtige Augenblick. Ist es der richtige Ort?«
    Erle beobachtete sie. Sie überlegte, bevor sie antwortete. Sie blickte zu ihrer Mutter, die ihr jedoch keinerlei Zeichen gab.
    »Ich würde lieber hier mit Euch sprechen«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme. »Und vielleicht mit der Prinzessin von Hur-at-Hur.«
    Nach einer kurzen Pause fragte der König freundlich: »Soll ich nach ihr schicken?«
    »Nein, ich kann sie besuchen. Später. Ich habe eigentlich nicht viel zu sagen. Mein Vater fragte, wer in das trockene Land gehe, wenn er sterbe. Und meine Mutter und ich sprachen darüber. Wir dachten, Menschen gingen dorthin, aber gehen Tiere auch dorthin? Fliegen Vögel dorthin? Sind dort Bäume, wächst dort Gras? Erle, du hast es gesehen.«
    Überrumpelt, wie er sich fühlte, konnte er nur sagen: »Da ... da ist Gras auf der hiesigen Seite der Mauer, aber es scheint tot zu sein. Mehr weiß ich auch nicht.«
    Tehanu schaute den König an. »Ihr seid durch dieses Land gegangen, Herr.«
    »Ich sah weder Tier noch Vogel noch irgendetwas, das wuchs.«
    Erle warf ein: »Lord Sperber sagte: Staub, Fels, Stein.«
    »Ich glaube, es gehen keine anderen Wesen bei ihrem Tode dorthin als menschliche«, sagte Tehanu. »Aber nicht alle.« Wieder schaute sie zu ihrer Mutter und wandte den Blick nicht ab.
    Tenar sprach jetzt. »Die kargischen Menschen sind wie die Tiere.« Ihre Stimme war teilnahmslos und verriet keinerlei Gefühl. »Sie sterben, um wiedergeboren zu werden.«
    »Das ist Aberglaube«, wandte Onyx ein. »Verzeiht mir, Lady Tenar, aber Ihr selbst...« Er hielt inne.
    »Ich glaube nicht länger«, sagte Tenar, »dass ich, wie es mir erzählt ward, Arha, die stets aufs Neue Wiedergeborene bin oder war, eine einzelne Seele, die endlos reinkarniert wird und mithin unsterblich ist. Ich glaube, dass ich, wenn ich sterbe, wie jedes sterbliche Wesen in das größere Sein der Welt eingehen werde. Wie das Gras, die Bäume, die Tiere. Menschen sind bloß Tiere, die sprechen, Herr, wie Ihr heute Morgen selbst sagtet.«
    »Aber wir können die Sprache des Erschaffens sprechen«, protestierte der Zauberer. »Indem wir die Worte lernen, mit denen Segoy die Welt erschuf, die Sprache des Lebens selbst, lehren wir unsere Seelen, den Tod zu besiegen.«
    »Der Ort, wo nichts ist als Staub und Schatten, ist das die Beute Eures Sieges?« Ihre Stimme war jetzt alles andere als teilnahmslos, und ihre Augen loderten.
    Onyx schaute empört drein, erwiderte aber nichts.
    Der König schaltete sich ein. »Lord Sperber stellte eine zweite Frage«, sagte er. »Kann ein Drache die Steinmauer überqueren?« Er schaute Tehanu an.
    »Die Antwort auf diese Frage ist bereits in der Antwort auf die erste enthalten«, sagte sie. »Wenn Drachen nur Tiere sind, die sprechen, und Tiere nicht dorthin gehen, gehen folglich Drachen nicht dorthin. Hat je ein Magier einen Drachen dort gesehen? Oder Ihr, Herr?« Sie schaute erst zu Onyx, dann zu Lebannen. Onyx überlegte nur einen kurzen Augenblick, ehe er antwortete: »Nein.«
    Der König machte ein verblüfftes Gesicht. »Wieso habe ich nie daran gedacht?«, fragte er. »Nein, wir haben keinen gesehen. Ich glaube, es gibt dort keine Drachen.«
    »Mein Herr«, sagte jetzt Erle, lauter, als er je etwas im Palast gesagt hatte, »ein Drache ist hier.« Er stand mit dem Gesicht zum Fenster, und er zeigte darauf.
    Alle drehten sich um. Am Himmel über der Bucht von Havnor sahen sie von Westen einen Drachen heranfliegen. Seine langen, langsam schlagenden, gefiederten Schwingen schimmerten rotgolden. Eine Rauchfahne kräuselte sich für eine kleine Weile hinter ihm in der dunstigen Sommerluft.
    »Nun«, sagte der König, »welches Zimmer bereite ich für diesen Gast?«
    Er sagte dies mit einer Mischung aus Belustigung und Verwirrung. Aber in dem Augenblick, da er den Drachen einen Schwenk machen und auf den Schwertturm zugeschwebt kommen sah, rannte er aus dem Zimmer und stürmte die Treppe hinunter, die verblüfften Wachen in den Hallen und an den Türen hinter sich lassend, sodass er als Erster und allein auf der Terrasse unter dem weißen Turm anlangte.
    Die Terrasse war das Dach eines Bankettsaales, eine weite Marmorfläche mit einer niedrigen Balustrade. Der Schwertturm ragte direkt über ihr auf, und der Königinnenturm erhob sich gleich daneben. Der Drache war auf den Marmorfliesen gelandet und rollte gerade mit einem lauten metallischen Klappern seine Schwingen ein, als der König heraustrat. An

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