Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
lag er mit offenen Augen unter den mächtigen Dachbalken zwischen all den Fremden. Er versuchte Pläne zu schmieden, wo er hingehen solle, was er unternehmen könne. Aber jeden Plan, jede Wahl verwarf er wieder, überall sah er nur Unheil drohen. Auf jedem Weg, den er erwog, lag ein dunkler Schatten. Nur Rok war frei davon. Aber nach Rok konnte er nicht gelangen; die starken, dichtgewobenen, uralten Wälle, die das gefährdete Eiland vor allem Bösen beschützten, ließen ihn nicht nahe kommen. Daß der Rokwind sich gegen ihn erhoben hatte, war Beweis dafür, daß sein Verfolger nicht mehr weit von ihm entfernt war.
Körperlos war dieses Wesen, blind bewegte es sich im Sonnenlicht. Es kam aus einer Tiefe, wo Zeit und Raum aufgehoben sind, wo ewige Finsternis herrscht. Unbeholfen quälte es sich durch die Tage und über die Meere dieser sonnenhellen Welt. Nur in Träumen und in der Dunkelheit war es als Schatten erkennbar. Noch hatte es keinen Körper, noch war es kein Wesen, das vom Licht der Sonne erfaßt werden konnte; wie es im Hodlied geschrieben steht:
Der Tag begann und schuf Land und Meer,
aus der Schattenwelt löste er Wesen und Dinge,
Träume trieb er zurück in das Reich der Finsternis.
Aber sollte es dem Schatten gelingen, ihn einzuholen, dann konnte er ihm die Macht entwinden, dann konnte er ihm Wärme und Leben aus dem Körper saugen und ihn zum willenlosen Werkzeug machen.
Am Ende des Pfades, den er einzuschlagen erwog, drohte ihm dieses Unheil, und Ged wußte auch, daß er in sein Verderben gelockt werden konnte; denn der Schatten wurde immer mächtiger, je mehr er sich ihm näherte, und war vielleicht jetzt schon stark genug, um unheilbringende Mächte oder böse Menschen in seine Dienste zu zwingen – indem er ihnen Falsches vorspiegelte oder durch die Stimme eines Freundes zu ihnen sprach. Es konnte sein, daß er schon jetzt, in diesem Augenblick, von einem der Männer Besitz ergriffen hatte, die in dem großen dunklen Saal des Seeheims schliefen; und dort, in irgendeiner finsteren Seele, wartete das Unding, beobachtete Ged und genoß seine Schwäche, seine Unsicherheit, seine Furcht.
Er konnte es nicht mehr aushalten. Er mußte dem Zufall vertrauen und fliehen, wohin er ihn auch treiben mochte. Im ersten Morgengrauen erhob er sich und schritt unter den verblassenden Sternen hinunter zum Anlegeplatz von Serd, entschlossen, mit dem ersten besten Schiff abzufahren, das ihn aufnahm. Eine Galeere wurde gerade mit Turbieöl beladen und sollte bei Sonnenaufgang nach Havnor ablegen. Ged fragte den Kapitän, ob er ihn mitnehmen könne. Ein Zauberer ist auf den meisten Schiffen willkommen und erhält freie Fahrt. Gern nahm man Ged an Bord, und kurz darauf stach das Schiff in See. Beim ersten Heben der Ruder fühlte sich Ged schon erleichtert, und die Trommelschläge, die den Ruderrhythmus bestimmten, waren Musik in seinen Ohren und füllten sein Herz mit neuem Mut.
Doch was er in Havnor tun und wohin er von dort aus fliehen sollte, das wußte er nicht. Sich nördlich zu halten, schien ihm nicht das schlechteste zu sein. Er war selbst vom Norden, und vielleicht fand er ein Schiff, das nach Gont segelte, und er konnte Ogion besuchen. Vielleicht fand er auch ein Schiff, das in die Außenbereiche fuhr, so weit hinaus, daß der Schatten ihn verlöre und die Jagd aufgäbe. Außer diesen vagen Vorstellungen hatte er keine Pläne, auch sah er keinen bestimmten Weg vor sich liegen. Er wußte nur, daß er fliehen mußte.
Vor Sonnenuntergang des nächsten Tages hatte das von vierzig Rudern getriebene Schiff hundertfünfzig Meilen über die winterliche See zurückgelegt. Im Hafen von Orrimy an der Ostküste von Hosk legte man an, denn die Handelsschiffe des Innenmeeres bleiben in Küstennähe und legen gern, wenn es sich einrichten läßt, über Nacht in Häfen an. Ged ging an Land und wanderte ziellos und gedankenverloren durch die engen, steilen Gassen der Hafenstadt.
Orrimy ist eine sehr alte Stadt mit wuchtigen, aus Stein und Backstein erbauten Häusern. Sie ist mit einer Stadtmauer umgeben, die Schutz gegen die raubgierigen Fürsten des Inlandes bietet. Die Lagerschuppen gleichen Festungen, und die Häuser der Kaufleute haben ebenfalls Türme und Mauern. Für Ged jedoch, der planlos durch die Straßen wanderte, waren die protzigen Villen nur Schleier, hinter denen leeres Dunkel gähnte, und die geschäftigen Menschen, die ihm begegneten, schienen nicht aus Fleisch und Blut zu sein, sondern nur stumme
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