Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
Seite und kam in so heftigen Böen, daß Gefahr bestand, das Boot könnte kentern. »Herr Sperber«, sagte der Kapitän zu dem jungen Mann, der neben ihm auf dem Ehrenplatz auf dem Vorderdeck stand, obwohl von würdigem Aussehen in diesem Wind und Regen, der sie durch die tropfnassen Umhänge bis auf die Haut durchnäßte, nicht die Rede sein konnte, »wäre es möglich, daß Sie diesem Wind Einhalt gebieten?«
»Wie weit ist es noch bis Rok?«
»Wir haben noch nicht die Hälfte zurückgelegt, und während der letzten Stunde kamen wir überhaupt nicht vom Fleck, mein Herr.«
Ged sprach zu dem Wind, und seine Stärke ließ nach, worauf sie eine ganze Weile recht gut vom Fleck kamen. Plötzlich aber erhoben sich heftige Windböen aus dem Süden, die sich kreischend gegen das Boot warfen und es zurück gegen Westen trieben. Die Wolken öffneten sich von neuem und ballten sich unheildrohend über ihnen zusammen. Der Kapitän rief voll Zorn: »Dieser widerwärtige Sturm bläst aus allen Ecken gleichzeitig. Nur ein magischer Wind kann uns jetzt noch weiterhelfen, mein Herr.«
Ged war nicht begeistert, aber er sah ein, daß Schiff und Besatzung sich seinetwegen in Gefahr begaben, und er füllte die Segel mit magischem Wind. Sofort begann das Schiff geradeaus nach Osten zu segeln, und die Miene des Kapitäns hellte sich zusehends auf. Aber der Wind nahm ab, und obwohl Ged den Windbann aufrechthielt, wurden die Segel allmählich schlaff. Das Schiff bewegte sich immer langsamer und blieb endlich einen Augenblick lang regungslos auf den Wellen liegen. Regen und Wind nahmen an Stärke zu, und plötzlich, wie ein Donnerschlag, schwang der Großbaum herum, und das Schiff sauste mit Blitzesschnelle nach Norden.
Ged hielt sich an der Reling fest, denn das Schiff lag fast auf dem Wasser, und rief: »Wenden Sie, zurück nach Serd, Kapitän!«
Der aber fluchte und brüllte, daß ihm das nicht einfalle. »Was, ein Zauberer an Bord, und ich soll umkehren, ich, der beste Seemann in der ganzen Zunft, und das hier das tüchtigste Schiff, mit dem ich je gesegelt bin – ich soll umkehren?«
Aber wieder wurde das Schiff gepackt und herumgeworfen, und der Kapitän selbst mußte sich am Mast festklammern, um nicht über Bord gefegt zu werden. Ged sagte zu ihm: »Setzen Sie mich in Serd ab, und dann können Sie segeln, wohin Sie wollen. Dieser Wind bläst nicht gegen Ihr Schiff, sondern gegen mich.«
»Gegen einen Zauberer von Rok?«
»Haben Sie noch nie vom Rokwind gehört, Kapitän?«
»Doch, natürlich; das ist der Wind, der alles Böse von der Insel der Weisen fernhält, aber was hat denn der Wind mit Ihnen, einem Drachenbezwinger, zu tun?«
»Das geht nur mich und meinen Schatten etwas an«, erwiderte Ged kurz, wie es Zauberer manchmal tun. Er sprach kein Wort mehr, als sie geschwind, mit anhaltendem Wind und unter einem sich aufhellenden Himmel nach Serd segelten.
Schwer war Geds Herz und mit heimlichem Grauen erfüllt, als er an den Lagerschuppen vorbei hinauf in die Stadt ging. Die Tage waren schon winterlich kurz, und Dämmerung umgab ihn bald. Mit dem Einbruch der Dunkelheit wuchs seine Bedrückung. Jedesmal wenn die Straße eine Biegung machte, fühlte er sich bedroht, und er mußte seinen ganzen Willen aufbieten, um nicht zurückzuschauen, ob ihm etwas folge. Er ging zum Seeheim von Serd, wo Reisende und Kaufleute auf Kosten der Stadt ein Mahl erhielten und in dem großen Saal mit den mächtigen Dachbalken frei übernachten konnten. Ähnlich gastfreundliche Heime findet man auf allen blühenden Inseln im Innenmeer.
Ged hob ein bißchen von seinem Fleisch auf, und später, als er am Feuer saß, redete er seinem Otak zu, aus den Falten seiner Kapuze herauszukommen, in denen er sich den ganzen Tag lang versteckt hatte. Er versuchte ihn dazu zu bringen, etwas zu essen. Er flüsterte ihm zu: »Hög, Hög, mein schweigsamer kleiner Gefährte …« Aber seine Bemühungen waren umsonst. Der Otak schlich zurück und verkroch sich in seiner Tasche. Das Verhalten des Tieres, seine eigene dumpfe Unsicherheit und die Schwärze in den Ecken des großen Saales bestätigten ihm, was er befürchtet hatte: Der Schatten hielt sich irgendwo in der Nähe auf. Hier kannte ihn niemand. Die Gäste waren meist Durchreisende, die von anderen Inseln kamen, auf denen das Sperberlied noch nicht gesungen wurde. Keiner sprach ihn an. Schließlich erhob er sich und suchte eine Strohmatratze aus, auf die er sich niederlegte; aber die ganze Nacht über
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