Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
so versuchte Ged, sie mit Worten zu unterhalten, ihre Einsamkeit erträglicher zu machen und ihr den gleichen Dienst zu erweisen, den sie auch ihm erwiesen hatte.
»Was ist das für ein Edelstein, der diesem Turm den Namen gibt?« fragte er sie, als sie nach dem Mahl vor ihren leeren Goldtellern und Goldbechern im Kerzenlicht des riesigen Speisesaales plaudernd beisammensaßen.
»Sie haben noch nie davon gehört? Er ist sehr bekannt.«
»Nein. Ich weiß nur, daß die Fürsten von Osskil berühmt sind für ihre Schätze.«
»O ja, das stimmt, aber dieser Stein übertrifft alle anderen. Möchten Sie ihn sehen? Kommen Sie mit, ich zeige ihn Ihnen.«
Sie schaute ihn an und versuchte, mutig und herausfordernd zu lächeln, und es schien Ged, als hätte sie ein wenig Angst vor dem, was sie jetzt tat. Sie führte den jungen Mann aus dem Saal hinaus durch die engen Gänge des Erdgeschosses und weitere Treppen hinunter, die in unterirdische Gewölbe führten, bis vor eine verschlossene Tür, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Mit einem Silberschlüssel schloß sie die Tür auf und schaute wieder auf Ged mit dem gleichen Lächeln, das ihn aufforderte, ihr zu folgen. Hinter der Tür lagen ein kurzer Gang und eine zweite Tür, die sie mit einem Goldschlüssel aufschloß, und dahinter war eine dritte Tür, die sie mit einer der großen Öffnungsformeln aufmachte. Diese Tür führte in einen Raum, der so klein wie ein Verlies war: Wände, Decke und Boden bestanden aus roh zugehauenem Stein. Sonst war nichts darin zu sehen.
»Sehen Sie ihn?« fragte Serret.
Als Ged seine Augen durch das Verlies schweifen ließ, fiel sein Blick auf einen Stein, der zwischen die anderen Steinplatten eingelassen war. Er sah nicht anders aus als die übrigen Steine, er war genauso grob zugehauen und feuchtdunkel, doch Ged fühlte die Macht, die von ihm ausging, so intensiv, als spräche er zu ihm. Der Atem blieb ihm in der Kehle stecken, und für einen Moment befiel ihn Übelkeit. Vor ihm lag der Grundstein des Turmes. Hier war der Mittelpunkt, und es war kalt, bitterkalt, nichts konnte diesen kleinen Raum erwärmen. Uralt war dieses Ding: ein alter, furchtbarer Geist war in diesem Steinblock gefangen. Ged gab Serret keine Antwort auf ihre Frage, sagte weder ja noch nein, sondern stand regungslos da. Sie deutete auf den Stein, indem sie ihm einen raschen, seltsamen Blick zuwarf. »Dies hier ist der Terrenon. Wundern Sie sich, weshalb wir einen so seltenen Stein in unserer tiefsten Schatzkammer aufbewahren?«
Noch immer gab Ged keine Antwort, sondern stand stumm und abwägend da. Es konnte sein, daß sie ihn nur prüfte, es konnte aber auch sein, daß sie keine Ahnung von dem wahren Wesen dieses Steines hatte, denn sie sprach so leichtfertig davon. Sie wußte wahrscheinlich nicht genug, um diesen Stein zu fürchten. »Erzählen Sie mir mehr von seiner Macht«, bat er schließlich.
»Der Stein entstand, noch bevor Segoy die Inseln dieser Welt aus dem Meer emporsteigen ließ. Er bestand schon, als die Welt geschaffen wurde, und er wird bis ans Ende dieser Welt bestehen. Zeit ist ohne Bedeutung für ihn. Wenn Sie Ihre Hand darauf legen und eine Frage an ihn richten, wird er Ihnen Antwort geben, gemäß der Macht, die Sie besitzen. Seine Stimme wird von denen vernommen, die ihn verstehen können. Er weiß um die Geschehnisse der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Er hat Ihr Kommen vorausgesagt, lange bevor Sie dieses Land betreten haben. Werden Sie ihn etwas fragen?«
»Nein.«
»Er wird Ihnen Antwort geben.«
»Ich habe ihn nichts zu fragen.«
»Er könnte Ihnen zum Beispiel sagen«, sprach Serret mit melodischer Stimme, »wie Sie Ihren Feind besiegen können.«
Ged gab keine Antwort.
»Fürchten Sie sich vor dem Stein?« fragte sie und schien ungläubig.
Er antwortete: »Ja.«
In der tödlichen Kälte und Stille dieser Zelle, die von den stärksten magischen Wänden umgeben und von Steinmauern umschlossen war, hier, im Licht einer einzigen Kerze, ließ Serret erneut einen Blick ihrer funkelnden Augen über ihn gleiten. »Sperber«, sagte sie, »Sie haben doch keine Angst!«
»Mit diesem Geist werde ich nicht sprechen«, sagte Ged. Dann faßte er Mut und blickte sie ernst und eindringlich an. »Fürstin, der Geist in diesem Stein ist eingeschlossen und gebunden in einem magischen Bann, der mit einem weiteren Bann verstärkt wurde. Er ist gebannt durch die großen Formeln des Verschließens und Verwahrens, er ist umgeben von
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