Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
dreifach verstärkten Festungswällen in einem leeren Land, nicht weil er wertlos ist, sondern weil er unsäglich Böses wirken kann. Ich weiß nicht, was man Ihnen erzählte, als Sie hierherkamen. Aber Sie, die jung und weichherzig sind, sollten dieses Ding niemals berühren noch Ihren Blick darauf ruhen lassen. Es kann Ihnen nichts Gutes bringen.«
»Ich habe ihn berührt. Ich habe auch mit ihm gesprochen und habe ihn reden gehört. Er tat mir nichts.«
Sie wandte sich zum Gehen, und sie kehrten zurück durch die Türen und Gänge, bis sie an die von Wandfackeln beleuchtete große Wendeltreppe des Turmes kamen. Hier blies Serret ihre Kerze aus, und sie trennten sich mit wenigen Worten.
Ged schlief nicht viel in dieser Nacht. Nicht der Gedanke an den Schatten hielt ihn wach, diese Furcht war verdrängt von dem Bild des Steines. Immer wieder tauchte es vor seinen Augen auf, und er grübelte über diesen Stein nach, der Grundstein dieses Turmes war. Und dazwischen sah er Serrets Gesicht, das ihm zugewandt war, das im Licht der flackernden Kerze abwechselnd hell und dunkel erschien. Er spürte wiederum ihren seltsamen Blick auf sich ruhen, als er sich geweigert hatte, den Stein zu berühren. Hatte Verachtung in ihrem Blick gelegen, oder hatte er sie verletzt? Als er sich endgültig zum Schlafen umdrehte, schienen ihm die seidenen Bettbezüge noch kälter als gewöhnlich, und er wachte wiederholt in der Dunkelheit auf, von dem Bild des Steines und dem Ausdruck in Serrets Augen beunruhigt.
Am nächsten Tag suchte er die Fürstin in dem halbrunden Saal aus grauem Marmor auf, in den das Licht der tief im Westen stehenden Sonne fiel. Hier hielt sie sich beim Spiel oder am Webrahmen gern mit ihren Dienerinnen auf. Er sprach sie an: »Frau Serret, ich habe Sie gestern beleidigt und möchte mich entschuldigen.«
»Nein«, sagte sie nachdenklich und wiederholte: »Nein …« Dann schickte sie ihre Dienerinnen fort, und als sie allein waren, wandte sie sich an Ged. »Mein Gast, mein Freund«, sagte sie, »Sie schauen weiter und sehen mehr als andere Menschen, aber vielleicht erkennen Sie doch nicht alles, was gesehen werden kann. In Gont, in Rok, dort werden hohe Zauberkünste gelehrt. Hier aber befinden wir uns in Osskil, dem Land der Raben: Dies ist kein hardisches Land. Magier haben hier wenig zu sagen, man kennt sie auch kaum. Und hier geschieht manches, worüber die Zaubermeister im Süden schweigen, und Dinge gibt es hier, die nicht auf der Liste des Meisters Namengeber stehen. Was man nicht kennt, fürchtet man gewöhnlich. Aber Sie haben hier, am Hof von Terrenon, nichts zu fürchten. Ein Mann mit geringerer Macht, der hätte wohl Grund zur Sorge. Sie nicht – Ihnen ist die Macht angeboren, mit der Sie das, was wir im verborgenen Raum hier halten, sich unterwerfen können. Dessen bin ich ganz gewiß. Darum sind Sie ja hier.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Weil Fürst Benderesk, mein Gemahl, nicht ganz offen mit Ihnen sprach. Aber ich werde Ihnen alles erzählen. Kommen Sie, setzen Sie sich her zu mir.«
Er ließ sich neben ihr auf der niedrigen gepolsterten Fensterbank nieder. Die untergehende Sonne warf ihre Strahlen schräg durchs Fenster, und alles war in einen goldenen Glanz getaucht, der keine Wärme verbreitete. Auf dem schon halb in den Schatten sinkenden Moor unten lag der ungeschmolzene Schnee der vergangenen Nacht und bedeckte wie ein stumpfweißes Leichentuch die Erde.
Noch weicher als gewöhnlich war der Klang ihrer Stimme, als Serret jetzt zu ihm sprach. »Benderesk ist Herr und Erbe des Terrenon, aber er kann sich seiner nicht ganz bedienen, er kann ihn nicht ganz beherrschen. Auch ich kann es nicht, weder allein noch zusammen mit ihm. Ihm und mir, uns fehlt es an Geschick und an der Macht. Sie aber verfügen über beides.«
»Woher wissen Sie das?«
»Von dem Stein selbst natürlich! Ich habe Ihnen doch erzählt, daß er Ihr Kommen vorausgesagt hat. Er weiß, wer sein Meister ist. Er hat auf Ihr Kommen gewartet. Noch bevor Sie geboren wurden, hat er schon gewartet, weil Sie ihn beherrschen können. Und derjenige, dem der Terrenon antwortet, der wird zum Meister seines eigenen Schicksals. Er wird so stark sein, daß er jeden Feind, ob menschlich oder übermenschlich, überwinden kann. Wissen, Reichtum, Macht und die Gabe des Sehens wird er gewinnen und über eine Zauberkraft verfügen, die selbst die Kraft des Erzmagiers in den Schatten stellt. Sie können alles gewinnen oder nur ganz wenig
Weitere Kostenlose Bücher