Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
zu suchen. Das wilde, trotzige Wesen des Falken war wie sein eigenes und wurde sein eigenes; sein Wille fortzufliegen, wurde der Wille des Falken. So war er über Enlad geflogen, nur kurz ließ er sich an einem einsamen Weiher im Wald nieder, um zu trinken, aber getrieben von der Furcht vor dem Schatten, der ihm folgte, hob er sich sofort wieder in die Höhe. Über die große Meerenge, die man den Rachen von Enlad nennt, immer weiter und weiter war er geflogen, sich südöstlich haltend. Rechts sah er blau die Hügel von Oranéa liegen und blasser links die Hügel von Andrad, vor ihm lag nur das Meer; bis schließlich aus den Wellen sich eine erhob, die sich nicht änderte, die immer höher wuchs – der weiße Berggipfel von Gont. Im Sonnenlicht und in der Nacht, ununterbrochen hatte er auf diesem Flug die Schwingen des Falken getragen, durch die Augen des Falken geschaut, bis er schließlich keine eigenen Gedanken mehr hatte und nur noch die des Falken kannte: Hunger, Wind und Flugziel.
Er flog zum richtigen Hafen. Nur wenige in Rok, nur einer in Gont konnte ihm helfen, wieder ein Mensch zu werden.
Als er erwachte, war er benommen und redete nicht. Ogion sprach nicht mit ihm, sondern gab ihm Fleisch und Wasser und ließ ihn am Feuer sitzen, zusammengekrümmt wie ein großer, grimmiger, trotziger Falke. Bei Nachteinbruch schlief er wieder. Am dritten Morgen kam er zur Herdstelle, wo Ogion saß und in die Flammen schaute, und sagte: »Meister …«
»Willkommen, Junge«, sagte Ogion.
»Ich kam wieder als der gleiche zurück, als der ich ausgezogen bin: als Narr«, sagte der junge Mann, und seine Stimme klang rauh und zögernd. Der Magier lächelte ein wenig, deutete mit dem Kopf auf den Sitz gegenüber am Herd und goß Tee auf.
Draußen fiel Schnee, der erste Schnee auf den unteren Hängen von Gont. Ogions Fensterläden waren fest geschlossen, aber man hörte den nassen Schnee aufs Dach fallen, und man fühlte die Stille des Schnees überall im Haus. Lange saßen sie am Feuer, und Ged erzählte Ogion alles, was sich seit seiner Abfahrt auf der Schatten zugetragen hatte. Ogion stellte keine Fragen, und als Ged fertig war, blieb er eine lange Weile nachdenklich sitzen. Dann erhob er sich, stellte Brot, Wein und Käse auf den Tisch; und sie aßen gemeinsam. Als sie gegessen und aufgeräumt hatten, sprach Ogion.
»Bittere Narben trägst du, mein Junge«, sagte er.
»Ich hab dem Ding gegenüber keine Macht«, antwortete Ged.
Ogion schüttelte den Kopf und schwieg lange. Schließlich sagte er: »Seltsam, deine Macht war groß genug, einen Zauberer in seiner eigenen Domäne in Osskil zu übertreffen. Du warst mächtig genug, den Lockungen und Angriffen einer Urmacht der Erde zu widerstehen. Und in Pendor hast du dich gegen einen Drachen behauptet.«
»In Osskil hatte ich Glück, nicht Macht«, sagte Ged und schauderte beim Gedanken an die tödliche Kälte am Hof von Terrenon. »Was den Drachen anbelangt, so wußte ich seinen Namen. Das furchtbare Ding, das mich verfolgt hat, hat keinen Namen.«
»Alles hat einen Namen«, sagte Ogion mit solcher Überzeugung, daß Ged nicht zu widersprechen wagte und die Worte des Erzmagiers Genscher nicht wiederholte, daß derartig unheimliche Wesen wie das, welches Ged freigesetzt hatte, keinen Namen tragen. Der Drache von Pendor hatte zwar angeboten, ihm den Namen des Schattens zu sagen, aber er schenkte den Worten eines Drachen wenig Vertrauen; genausowenig hatte er Serrets Versprechungen geglaubt, daß ihm der Stein sagen könne, was er wissen mußte.
»Wenn der Schatten auch einen Namen hat«, sagte er endlich, »dann bedeutet das immer noch nicht, daß er anhält und ihn mir mitteilt.«
»Nein«, sagte Ogion, »genausowenig wie du angehalten hast und ihm deinen Namen gesagt hast. Und doch kannte er ihn. Auf dem Moor in Osskil hat er dich bei deinem Namen gerufen, bei dem Namen, den ich dir gab. Es ist seltsam, seltsam.«
Wiederum grübelte er lange. Ged sagte schließlich: »Ich kam hierher, um Rat zu suchen, nicht um eine Zuflucht zu finden, Meister. Ich will nicht, daß der Schatten diesen Ort heimsucht. Wenn ich hierbleibe, wird er bald wieder hier sein. Einmal haben Sie ihn aus diesem Raum vertrieben …«
»Nein, das war nur die Vorahnung davon, der Schatten eines Schattens. Ich könnte ihn jetzt nicht mehr hervortreiben. Nur du kannst das tun.«
»Aber vor ihm bin ich machtlos. Gibt es keinen Ort …?« Seine Stimme verlor sich, bevor er die Frage vollendet
Weitere Kostenlose Bücher