Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
anderen Sterblichen, der sich ins Labyrinth wagte, irreführen würden.
Das erste Mal ging sie nicht weit, aber doch weit genug, um dieses seltsame, bittere und zugleich angenehme Gefühl der Einsamkeit und der Unabhängigkeit zu verspüren, das in ihr stark wurde, das sie immer wieder zurücktrieb und doch jedesmal veranlaßte, etwas weiter zu gehen. Sie erreichte den Bemalten Raum und die Sechs Wege, folgte dem langen Außentunnel und durchdrang das Gewirr der Gänge, die in den Knochenraum führten.
»Wann wurde das Labyrinth gegraben?« fragte sie Thar, und die hagere, strenge Priesterin antwortete: »Herrin, ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«
»Warum wurde es angelegt?«
»Um die Schätze der Gräber zu verstecken und diejenigen zu bestrafen, die die Schätze zu stehlen versuchen.«
»Alle Schätze, die ich gesehen habe, befinden sich in den Räumen hinter dem Thron und in den Kellern darunter. Was ist im Labyrinth?«
»Ein viel größerer und viel älterer Schatz. Will meine Herrin ihn anschauen?«
»Ja.«
»Nur sie kann dort eintreten, wo sich die Schätze der Gräber befinden. Ihre Diener können das Labyrinth betreten, aber nicht die Schatzkammer. Selbst Manan würde den Zorn der dunklen Mächte erwecken und das Labyrinth nicht mehr lebendig verlassen. Dorthin muß meine Herrin immer allein gehen. Ich weiß, wo sich der große Schatz befindet. Vor fünfzehn Jahren, bevor sie gestorben ist, hat mir meine Herrin den Weg beschrieben, damit ich ihn im Gedächtnis behalte und ihn ihr wieder vorsage, wenn sie zurückkehrt. Ich kann den Weg beschreiben, der vom Bemalten Raum ausgeht, und der Schlüssel zum Schatz ist dieser da, der kleine silberne, mit dem Drachen am Griff. Aber meine Herrin muß allein gehen.«
»Wie erreiche ich die Schatzkammer?«
Thar beschrieb ihr den Weg, und sie erinnerte sich wieder, wie sie sich an alles erinnerte, was man ihr sagte. Aber sie ging nicht zu dem großen Schatz der Gräber. Etwas hielt sie zurück. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als sei sie noch nicht bereit dazu, als fehle ihrem Wissen noch etwas. Vielleicht wollte sie auch nur etwas in Reserve behalten, etwas, worauf sie sich freuen konnte, das die endlosen unterirdischen Gänge, die im Dunkel lagen und immer nur an eine leere Wand oder in eine verstaubte leere Kammer führten, in ein verlockenderes Licht rückten. Sie beschloß, noch eine Weile zu warten, bevor sie den Schatz aufsuchte.
Und zudem – hatte sie nicht alles schon einmal gesehen?
Es berührte sie immer noch seltsam, wenn Thar oder Kossil von Dingen sprachen, die sie angeblich gesehen oder gesagt hatte, bevor sie starb. Sie wußte, daß sie wirklich gestorben war und zur Stunde ihres Todes in einem anderen Körper wiedergeboren wurde; dies hatte sich nicht nur einmal, vor fünfzehn Jahren, zugetragen, sondern auch vor fünfzig Jahren und davor und wieder davor, durch die Generationen hindurch bis zum Beginn der Zeitrechnung, bis zu der Zeit, als das Labyrinth gebaut und die Steine errichtet worden waren und die Erste Priesterin der Namenlosen an dieser Stätte waltete und vor dem Leeren Thron tanzte. Alle diese Leben waren im Grunde nur ein einziges Leben, und sie war ein Teil davon. Sie war die Erste Priesterin. Alle Menschen werden wiedergeboren, aber nur sie, Arha, wird immer wieder als die gleiche wiedergeboren. Hunderte von Malen hatte sie die Gänge und Windungen des Labyrinths kennengelernt und war zu dem verborgenen Raum gelangt.
Manchmal kam es ihr vor, als erinnere sie sich daran. Die dunklen Stätten unter dem Hügel waren ihr so vertraut, als seien sie nicht nur ihr Reich, sondern auch ihr Heim. Wenn sie die betäubenden Dämpfe der Kräuter einatmete und in der dunklen, mondlosen Nacht tanzte, fühlte sie, wie sie immer schwereloser wurde, wie ihr Körper von einem anderen Willen geleitet wurde und sich bewegte; sie tanzte dann durch die Jahrhunderte, barfuß, schwarzgekleidet – und sie wußte, daß dieser Tanz nie ein Ende genommen hatte. Doch es berührte sie immer wieder seltsam, wenn Thar sagte: »Bevor meine Herrin starb, sagte sie mir …« Einmal hatte sie gefragt: »Wer waren diese Männer, die kamen, um die Gräber auszurauben? Gelang es je einem von ihnen?« Die Vorstellung von Raub faszinierte sie, kam ihr aber gleichzeitig auch unwahrscheinlich vor. Wie konnte es einem Menschen gelingen, unbemerkt an die Stätte zu gelangen? Pilger gab es nur sehr wenige, noch weniger als Gefangene. Ab und zu wurden neue Novizen
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