Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
lange! Ich bin die Erste Priesterin, die Wiedergeborene. Ich diene meinen Gebietern schon seit tausend Jahren und Tausende von Jahren davor. Ich bin ihre Dienerin, ihre Stimme, ihre Hände. Und ich führe ihre Rache aus an denjenigen, die die Gräber entweihen und die das anschauen, das nicht gesehen werden darf! Hör mit deinen Lügen und Aufschneidereien auf! Kannst du nicht begreifen, daß es nur eines Wortes bedarf, und mein Wächter kommt und schlägt dir den Kopf ab? Oder ich kann weggehen und die Tür zuschließen, und niemand wird kommen, niemals mehr. Und hier in der Dunkelheit wirst du sterben, und jene, denen ich diene, werden kommen und dein Fleisch und deine Seele verzehren, und deine Knochen werden im Staub liegen bleiben.«
Schweigend nickte er.
Sie stammelte und fand keine Worte mehr, die sie hätte ergänzen können. Sie eilte aus dem Raum, schlug die Tür hinter sich zu und schob den Riegel mit lautem Kreischen vor. Sollte er doch denken, daß sie nicht mehr wiederkehren würde! Sollte er doch schwitzen vor Angst, dort in der Dunkelheit, und sie verfluchen! Sollte er doch zittern und beben und seine nutzlosen, finsteren Zaubereien wirken!
Aber vor ihrem geistigen Auge sah sie, daß er sich zum Schlafen ausstreckte, wie er es an der eisernen Tür getan hatte, friedlich wie ein Lamm auf einer sonnigen Wiese.
Sie spuckte auf die verriegelte Tür und machte das Zeichen, das Übles abwendet. Dann eilte sie, fast rennend, zum Untergrab davon.
Während sie sich an der Wand des Gewölbes entlang zur Falltür bewegte, berührten ihre Finger die feinen Muster im Fels, die sich wie erstarrte Spitzen anfühlten. Ein Verlangen erfüllte sie, die Laterne anzuzünden und noch einmal, nur einen kurzen Augenblick lang, die von der Zeit selbst gemeißelten Kunstwerke im Kalkstein und den herrlichen Glanz an den Wänden zu betrachten. Dann preßte sie die Augen fest zusammen und eilte weiter.
Der große Schatz
NOCH NIE WAREN IHR die Rituale so lang, so endlos, so leer vorgekommen. Die kleinen Mädchen mit ihren bleichen Gesichtern und verstohlenen Gebärden, die unzufriedenen Novizinnen und die Priesterinnen, die so streng und kühl dreinschauten, deren Leben aber eine verborgene Hölle voll Neid und Leid, voll lächerlichem Ehrgeiz und vergeudeter Leidenschaft war – alle diese Frauen, unter denen sie ihr Leben verbracht hatte und die schlechthin die Welt für sie verkörperten, sie kamen ihr jetzt so bemitleidenswert, so langweilig vor.
Sie, Arha, die den großen Mächten diente, sie, die Priesterin der finsteren Nacht, war dieser bedrückenden Enge enthoben. Sie mußte sich nicht um die belanglosen Kleinigkeiten dieses gemeinschaftlichen Lebens kümmern, wo der Höhepunkt eines Tages darin bestehen mochte, daß man einen größeren Schlag Hammelfett über die Linsen geschüttet bekam als die Nachbarin … Tage hatten sowieso ihre Bedeutung für sie verloren. Unter der Erde gab es keine Tage. Dort herrschte immer und fortwährend Nacht.
Und in dieser endlosen Nacht befand sich der Gefangene: der dunkle Mann, der die Schwarzen Künste beherrschte, der in Eisen geschmiedet und an Stein gekettet auf sie wartete, zu dem sie gehen oder nicht gehen konnte, wie es ihr gefiel, dem sie Leben in Form von Brot und Wasser oder den Tod, ein Messer und eine Metzgerwanne bringen konnte. In ihrer Hand lag es, sie konnte tun, was sie wollte.
Sie hatte nur Kossil von dem Mann erzählt, und Kossil hatte mit niemandem darüber geredet. Er befand sich jetzt schon drei Tage und Nächte lang in dem Bemalten Raum, doch sie hatte Arha noch nicht nach ihm gefragt. Vielleicht hielt sie ihn für tot und vermutete, daß Arha Manan veranlaßt habe, ihn in den Knochenraum zu schleifen, wo er zwischen den Gebeinen früherer Gefangener vermoderte. Es lag sonst nicht in Kossils Art, ruhig zu sein und etwas als gegeben hinzunehmen. Doch Arha redete sich ein, daß Kossils Schweigen nicht ungewöhnlich sei. Kossil wollte immer alles geheimhalten und haßte es, Fragen stellen zu müssen. Und außerdem hatte Arha ihr empfohlen, sich nicht in ihre Angelegenheiten zu mischen. Kossil gehorchte ihr ganz einfach.
Wenn der Mann jedoch als tot galt, dann konnte Arha nicht um Nahrung für ihn bitten. Und so aß Arha einfach nichts, abgesehen von einigen gestohlenen Äpfeln und getrockneten Zwiebeln aus dem Keller des Großhauses. Sie ließ sich ihre Morgen- und Abendmahlzeiten ins Kleinhaus schicken und gab vor, allein essen zu wollen. In der Nacht
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