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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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habe keinen Unterricht im Töten mehr nötig.«
    Kossils Gesicht schien sich in die schwarze Kapuze zurückzuziehen wie eine Wüstenschildkröte in ihren Panzer, langsam, verbissen und kalt. »Sehr gut, Herrin.«
    Sie trennten sich vor dem Altar der göttlichen Brüder. Arha ging, ohne sich zu beeilen, zum Kleinhaus und rief Manan zu sich, damit er sie begleite. Nachdem sie mit Kossil gesprochen hatte, wußte sie, was zu tun war.
    Zusammen mit Manan stieg sie den Hügel hinauf, betrat die Thronhalle und begab sich hinunter ins Untergrab. Mit vereinten Kräften und großer Anstrengung zogen sie an dem langen Hebel der eisernen Tür. Sie öffnete sich langsam und schwerfällig. Dann zündeten sie ihre Laternen an und traten ein. Arha ging voran zum Bemalten Raum, und von dort aus machte sie sich auf den Weg zur großen Schatzkammer.
    Der Dieb war nicht weit gekommen. Sie und Manan waren nicht mehr als fünfhundert Schritte auf dem verschlungenen Weg gegangen, als sie auf ihn stießen. Er lag, zusammengesunken wie ein Bündel alter Lumpen, in dem engen Gang. Er hatte seinen Stab weggeworfen, bevor er umfiel, doch er lag nicht weit entfernt davon. Er blutete aus dem Mund, seine Augen waren halb geschlossen.
    »Er lebt noch«, sagte Manan, der niedergekniet war und mit seiner großen gelben Hand den Puls an der Kehle des Mannes fühlte. »Soll ich ihn erwürgen, Herrin?«
    »Nein, ich will ihn lebendig haben. Nimm ihn hoch und trag ihn mir nach!«
    »Lebendig?« Manan war beunruhigt. »Warum denn das, kleine Herrin?«
    »Damit er Sklave der Gräber werden kann! Sei jetzt ruhig und rede nicht weiter! Tu, was ich dir sage!«
    Manans Gesicht wurde noch melancholischer als gewöhnlich, doch er gehorchte und hob den jungen Mann wie einen langen Sack mühelos auf die Schulter. So beladen, stolperte er hinter Arha her. Er konnte nicht weit gehen mit seiner Last. Sie hielten immer wieder an, damit Manan Atem schöpfen konnte. An jedem Haltepunkt sah der Gang gleich aus: gräulichgelbe Steine an der Wand, die sich zu einem Rundbogen trafen, unebener Felsboden, verbrauchte Luft. Manan stöhnte und ächzte, der Fremde rührte sich nicht. Die zwei Laternen verbreiteten ein schwaches Lichtrund, das sich nach vorn und hinten in dem engen Gang verlor. An jeder Haltestelle tröpfelte Arha etwas von dem Wasser, das sie mitgebracht hatte, in den Mund des Fremden, immer nur ein paar Tropfen, damit das wiedererwachende Leben ihn nicht töte.
    »In den Kettenraum?« fragte Manan, als sie sich in dem Gang befanden, der zur eisernen Tür führte. Jetzt kam es Arha zum ersten Mal zum Bewußtsein, daß sie nicht wußte, wohin sie den Gefangenen bringen sollte.
    »Nein, nicht dorthin«, sagte sie, und wiederum wurde es ihr fast übel beim Gedanken an den Rauch und Gestank, an die verfilzten, sprachlosen, blinden Gesichter. Und außerdem konnte Kossil diesen Raum betreten. »Er … er muß im Labyrinth bleiben, damit er seine Zauberkraft nicht wiedererlangen kann. Wo gibt es hier einen abgeschlossenen Raum …?«
    »Der Bemalte Raum hat eine Tür und ein Schloß, und ein Guckloch ist auch da, Herrin. Wenn man ihm mit Türen trauen kann …«
    »Hier unten hat er keine Macht. Trag ihn dorthin, Manan!«
    Manan schleppte ihn also wieder zurück, die gleiche Strecke, die sie gekommen waren, zu erschöpft, zu kurzatmig, um zu protestieren. Als sie endlich den Bemalten Raum erreicht hatten, nahm Arha ihren langen, schweren Winterumhang aus Wolle ab und legte ihn auf den staubigen Boden.
    »Leg ihn darauf«, befahl sie.
    Manan starrte in melancholischer Verwirrung auf den Umhang und keuchte: »Kleine Herrin …«
    »Ich will, daß dieser Mann am Leben bleibt, Manan. Er wird hier sonst an Kälte sterben. Schau her, wie er zittert.«
    »Der Umhang wird entweiht, beschmutzt. Der Umhang der Priesterin – er ist ein Ungläubiger, ein Mann!« stieß Manan aus, und seine kleinen Augen zogen sich zusammen, als litte er Schmerzen.
    »Dann werde ich den Umhang verbrennen und mir einen neuen weben lassen. Beeil dich, Manan!«
    Manan ließ den Gefangenen vom Rücken gleiten und auf den schwarzen Umhang fallen. Der Mann lag da wie tot, aber sein Puls klopfte stark in seiner Kehle. Ab und zu wurde er von Krämpfen geschüttelt.
    »Man sollte ihn in Ketten legen«, murmelte Manan voller Unbehagen.
    »Sieht er so gefährlich aus?« spottete Arha, doch als Manan auf den eisernen Ring deutete, der in die Steine eingelassen und für Gefangene bestimmt war, hieß sie

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