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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Augen, ragten über ihm und über ihr auf. Kein Laut war zu hören. Sie seufzte, enttäuscht und irgendwie betrübt. Er war schwach; er redete großartig daher, aber er konnte nichts. Er war nur ein guter Lügner, sonst nichts, nicht einmal ein guter Dieb. »Nun ja«, sagte sie endlich und raffte ihre Röcke zusammen, um aufzustehen. Die Wolle raschelte auf ungewöhnliche Weise, als sie sich bewegte. Sie blickte an sich hinunter und stand überrascht auf.
    Das schwere schwarze Gewand, das sie jahrelang getragen hatte, war verschwunden; sie trug ein Kleid aus türkisfarbener Seide, weich und hell wie der Abendhimmel. Es bauschte sich zu einer Glocke um ihre Hüften, und der Rock war mit dünnen Silberfäden und mit kleinen Perlen und winzigen Kristallen bestickt und glitzerte wie Regen im April.
    Sie blickte den Zauberer sprachlos an.
    »Gefällt es Ihnen?«
    »Wo …?«
    »Es ist wie das Gewand, das ich einst an einer Prinzessin gesehen habe, beim Fest der Sonnenwende im Neuen Palast in Havnor«, sagte er und blickte befriedigt auf sein Werk. »Sie baten mich, Ihnen etwas zu zeigen, das sehenswert ist. Ich zeige Ihnen – Sie selbst.«
    »Laß es – laß es verschwinden!«
    »Sie gaben mir Ihren Umhang«, sagte er vorwurfsvoll. »Darf ich Ihnen denn nichts geben? Aber haben Sie keine Angst – es ist nur Illusion. Sehen Sie?«
    Er schien keinen Finger zu heben, er sagte gewiß kein einziges Wort, doch die türkisfarbene Seidenpracht war verschwunden, und sie stand wieder in ihrem groben schwarzen Gewand vor ihm.
    Sie stand eine Weile bewegungslos da.
    »Wie kann ich wissen«, sagte sie schließlich, »daß du der bist, für den ich dich halte?«
    »Sie können es nicht wissen«, fragte er. »Ich weiß nicht, wofür Sie mich halten.«
    Sie grübelte lange darüber nach. »Du könntest mich täuschen, du könntest mir etwas vorspiegeln, dich als …« Sie verstummte, denn er hatte eine Hand bewegt, nur ganz kurz, und nach oben gedeutet. Es war nur die Andeutung eines Zeichens gewesen. Sie befürchtete, er wolle einen Bann wirken, und zog sich schnell zur Tür zurück, aber seiner Geste folgend sah sie hoch über sich in dem dunklen Rund der Decke das kleine Viereck, das Guckloch in der Schatzkammer des Zwillingsgöttertempels.
    Kein Licht fiel durch das Guckloch, sie sah nichts, hörte nichts von oben, aber er hatte hinaufgedeutet, und sein fragender Blick lag auf ihr.
    Beide rührten sich nicht.
    »Deine Zauberei ist bloße Narrenspielerei, vielleicht für Kinder geeignet«, sagte sie klar und deutlich. »Sie ist Betrügerei und Lüge. Ich habe genug gesehen. Du wirst den Namenlosen übergeben werden. Ich werde nicht mehr kommen.«
    Sie nahm die Laterne, ging hinaus und schob den Eisenriegel laut krachend zu. Dann blieb sie an der Außenseite der Tür stehen, unsicher und verwirrt. Was sollte sie jetzt tun?
    Wieviel hatte Kossil gehört, wieviel gesehen? Worüber hatten sie gesprochen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie sagte nie das zu dem Gefangenen, was sie eigentlich sagen wollte. Er brachte immer alles durcheinander mit seinem Gerede von Drachen und Türmen, von Namen für die Namenlosen, mit seinem Wunsch, am Leben zu bleiben, und mit seiner Dankbarkeit für den Umhang. Nie sagte er das, was sie von ihm erwartete. Sie hatte ihn nicht einmal über den Talisman ausgefragt, den sie an einer Kette, an der Brust verborgen, um den Hals trug.
    Aber das war vielleicht gut so, falls Kossil zugehört hatte.
    Nun, was machte das schon aus, was konnte Kossil schon tun? Noch während sie sich diese Frage stellte, wußte sie die Antwort: Nichts ist leichter zu töten als ein gefangener Falke. Der Mann war hilflos, angekettet in diesem Steinkäfig. Die Priesterin des Gottkönigs brauchte nur ihren Wärter Duby heute nacht hinunterzuschicken, um ihn zu erwürgen; oder sie brauchte nur Giftstaub durch das Guckloch in den Bemalten Raum zu blasen, wenn sie und Duby sich in der Tiefe des Labyrinths nicht so gut auskannten. Sie besaß Schachteln und Gläser voll unheimlicher Giftstoffe für alle Gelegenheiten: manche zum Vergiften der Nahrung und des Wassers, andere zum Verbreiten in der Luft, die zum Tod führten, wenn sie lange genug eingeatmet wurden. Und morgen früh läge er tot in seinem Verlies, und alles wäre vorbei. Und sie sähe nie mehr ein Licht unter den Gräbern brennen.
    Arha eilte durch die engen Steingänge zum Eingang in das Untergrab, wo Manan geduldig wie eine Kröte in der Dunkelheit hockte und

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