Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
trug sie alles außer der Suppe hinunter in den Bemalten Raum des Labyrinths. Sie war daran gewöhnt, lange zu fasten, manchmal vier Tage lang, und es machte ihr nichts aus. Der Bursche dort unten im Labyrinth verschlang ihre kargen Mahlzeiten aus Brot, Käse und Bohnen, wie eine Kröte eine Fliege verschlingt: schwupp , fort war es. Es war offensichtlich, daß er fünf- oder sechsmal soviel hätte essen können, aber er dankte ihr immer ernsthaft und höflich, als ob er ein Gast wäre und sie die Gastgeberin an einer Tafel, wie es ihr aus Geschichten von den Festen im Palast des Gottkönigs bekannt war, wo es geröstetes Fleisch, Brot mit Butter und Wein in Kristallgläsern gab. Es war wirklich seltsam.
»Wie sehen die Innenländer aus?«
Sie hatte einen kleinen Faltschemel aus Elfenbein mitgebracht, damit sie nicht stehen und auch nicht auf dem Boden – auf einer Höhe mit ihm – sitzen mußte, während sie ihn ausfragte.
»Sie bestehen aus vielen Inseln. Im Inselreich selbst, so sagt man, gibt es vierzigmal vierzig Inseln, und dann gibt es noch die Außenbereiche; keiner hat alle Außenbereiche befahren oder gar die Inseln und Länder gezählt. Und jede Insel ist anders. Aber die schönste von allen ist doch Havnor, im Mittelpunkt der Welt. Inmitten von Havnor, an einer großen Bucht voller Schiffe, liegt die Stadt Havnor. Die Türme der Stadt sind aus weißem Marmor erbaut. Jedes Haus, das einem Prinzen oder einem Kaufmann gehört, hat einen Turm, und ein Turm überragt den anderen. Die Dächer der Häuser haben rote Ziegel, und alle Brücken, die über die Kanäle führen, sind mit rotem, blauem und grünem Mosaik eingelegt. Und die Fahnen der Prinzen sind ganz bunt und flattern auf jedem Turm. Auf dem höchsten der Türme aber erhebt sich das Schwert von Erreth-Akbe; wie ein hoher, spitzer Gipfel ragt es in den Himmel. Wenn sich die Sonne über Havnor erhebt, so fallen ihre ersten Strahlen auf diese Klinge und bringen sie zum Glänzen, und wenn sie untergeht, so bleibt das Schwert noch eine Weile golden vom Abendlicht in der Dämmerung ringsum.«
»Wer war Erreth-Akbe?« fragte sie schlau.
Er blickte zu ihr auf. Er sagte nichts, aber er lachte ein bißchen. Dann, als ob er sich etwas überlegt hätte, sagte er: »Es ist wahr, hier weiß man wenig über ihn. Wahrscheinlich nur daß er einst ins Kargadreich gekommen ist. Und wieviel von der Geschichte kennen Sie?«
»Ich weiß, daß er seinen Hexenmeisterstab, sein Amulett und seine Macht hier verloren hat – genau wie du«, antwortete sie. »Er floh vor dem Hohenpriester in den Westen, wo ihn Drachen verschlungen haben. Aber wenn er hierher zu den Gräbern gekommen wäre, hätte er sich die Drachen ersparen können.«
»Stimmt«, sagte der Gefangene.
Sie wollte nicht weiter nach Erreth-Akbe fragen, sie spürte, daß hier eine Gefahr lauerte. »Man sagt, daß er ein Drachenfürst gewesen sei. Du behauptest, auch einer zu sein. Sag mir, was bedeutet das, Drachenfürst zu sein?«
Ihr Ton war immer herrisch, aber er antwortete direkt und einfach, so als hätte sie ihm eine schlichte Frage gestellt.
»Einer, der mit den Drachen sprechen kann«, sagte er, »wird als Drachenfürst bezeichnet; das ist jedenfalls das Wesentlichste. Es bedeutet nicht, daß er den Drachen gebieten kann. Drachen haben keine Gebieter. Bei einem Drachen handelt es sich immer um das gleiche: Wird er mit dir reden, oder wird er dich verschlingen? Tut er das erstere und nicht das letztere, nun, dann ist man Drachenfürst.«
»Können Drachen reden?«
»Oh, gewiß! Sie reden in der ältesten Sprache, in der Sprache, die wir Menschen so mühsam erlernen müssen und doch immer nur ungenügend beherrschen, in der wir unsere magischen Zaubersprüche und unsere Worte der Formgebung aussprechen. Kein Mensch kann die ganze Sprache oder auch nur ein Zehntel davon lernen. Ein Menschenleben währt nicht lange genug, als daß man sie erlernen kann. Drachen leben tausend Jahre … Es lohnt sich, mit ihnen zu reden, das können Sie sich sicher vorstellen.«
»Gibt es hier in Atuan auch Drachen?«
»Schon seit Jahrhunderten nicht mehr, glaube ich. Auch nicht in Karego-At. Aber auf Ihrer allernördlichsten Insel, auf Hur-at-Hur, dort, so wird behauptet, gibt es noch große Drachenhorste in den Bergen. Im Innenreich findet man sie nur noch im äußersten Westen, auf Inseln, wo keine Menschen wohnen und nur ganz wenige hinkommen. Wenn sie hungrig werden, dann brechen die Drachen zu Raubzügen im
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