Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Osten auf, doch das kommt selten vor. Ich habe die Insel gesehen, auf der sie zum Tanz zusammenkommen. Sie fliegen mit ihren großen Flügeln in Spiralen, immer höher und höher über dem Meer im Westen, wie ein Sturm gelber Blätter im Herbst.« Von der Vision gepackt, blickten seine Augen durch die schwarzen Gemälde an der Wand, durch die Steinwände, die Erde und die Dunkelheit, und er sah das weite Meer vor sich, das sich gegen die Sonne erstreckte, und die goldenen Drachen im goldenen Wind.
»Du lügst«, sagte Arha heftig, »du erfindest das alles.«
Er blickte sie an, bestürzt. »Warum sollte ich lügen, Arha?«
»Damit ich mir ganz blöde vorkomme, ganz dumm, und Angst habe. Und du stehst klug und weise, tapfer und mächtig da, und bist ein Drachenfürst und dieses und jenes. Du hast Drachen tanzen sehen und die Türme von Havnor, und du scheinst alles zu wissen. Und ich weiß nichts und war nirgends. Lügen! Nichts als Lügen! Ein Dieb bist du, ein Gefangener, und du hast keine Seele, und diese Stätte wirst du nie wieder verlassen. Hörst du? Es ist ganz gleich, ob es Meere gibt und Drachen und weiße Türme und all das, denn du wirst es nie mehr sehen, selbst das Licht der Sonne wirst du nicht mehr sehen. Ich, ich kenne nur die Dunkelheit, die unterirdische Nacht. Die aber ist wirklich und wahr. Und das ist schließlich und letzten Endes alles, was man kennen muß, das Schweigen und die Dunkelheit. Du weißt alles, Zauberer. Ich weiß nur eines – die einzige Wahrheit!«
Er neigte den Kopf. Seine langen Hände ruhten unbeweglich auf den Knien. Sie sah die vierfache Narbe auf seiner Wange. Er war weiter als sie in die Dunkelheit gegangen; er kannte den Tod besser als sie, den Tod selbst … Heiß stieg es in ihr hoch und saß ihr würgend in der Kehle. Warum saß er so da, so wehrlos, so stark? Warum konnte sie ihn nicht bezwingen?
»Und der Grund, warum ich dich am Leben lasse«, sagte sie plötzlich, ohne im geringsten darüber nachgedacht zu haben, »ist folgender: Ich will, daß du mir die Kunststücke der Hexenmeister zeigst. Solange du mir Kunststücke zeigen kannst, solange wirst du am Leben bleiben. Wenn du keine kannst, wenn alles nur Lüge und Narretei ist, dann – dann will ich nichts mehr mit dir zu schaffen haben. Hast du das verstanden?«
»Ja.«
»Also gut, fang an.«
Er legte die Stirn auf die Hände und veränderte seine Lage. Der eiserne Gürtel erlaubte ihm keine bequeme Stellung, nur wenn er sich ganz flach ausstreckte.
Schließlich hob er das Gesicht und blickte sie ernst an. »Arha, hören Sie mich an! Ich bin ein Magier, ein Hexenmeister, wie Sie es nennen. Ich besitze eine gewisse Macht und verfüge über bestimmte Künste. Das stimmt. Es stimmt aber auch, daß hier, an dieser Stätte, wo die Urmächte walten, meine Kraft gering ist und meine Künste mir nur wenig nützen. Ja, ich könnte Illusionszaubereien für Sie wirken, und Ihnen alles mögliche Wunderbare zeigen. Aber das ist nur ein geringer Teil der Magie. Ich konnte Illusionszaubereien wirken als ich noch ein Kind war, ich kann sie selbst hier wirken. Aber wenn Sie daran glauben, dann kann es gut sein, daß Sie sich davor fürchten. Und es ist gut möglich, daß Sie mich dann töten lassen, denn Furcht macht zornig. Und wenn Sie nicht daran glauben, dann sehen Sie es als Lügen und Narretei an, wie Sie sagen, und ich setze mein Leben erneut aufs Spiel. Und mein Ziel – mein Wunsch – in diesem Augenblick ist es, am Leben zu bleiben.«
Sie mußte lachen und sagte: »Oh, du wirst noch eine Weile am Leben bleiben, verstehst du das nicht? Bist du dumm! Also gut, zeig mir die Illusionen. Ich weiß, daß sie nicht wahr sind, und ich werde keine Angst davor haben. Ich hätte übrigens auch keine Angst davor, wenn sie wahr wären. Aber fang schon an. Deine dir so werte Haut ist heute nacht nicht gefährdet.«
Als sie das sagte, mußte auch er lachen. Sie spielte mit seinem Leben, warf es hin und her wie einen Ball.
»Was soll ich Ihnen zeigen?«
»Was kannst du mir denn zeigen?«
»Alles mögliche.«
»Wie du unaufhörlich aufschneidest!«
»Nein«, sagte er, offensichtlich etwas gekränkt. »Das lag jedenfalls nicht in meiner Absicht.«
Er neigte den Kopf und betrachtete eine Weile seine Hände. Nichts geschah. Die Talgkerze brannte schwach und gleichmäßig in der Laterne. Die schwarzen Gemälde an der Wand, die unbeweglichen vogelflügeltragenden Gestalten mit ihren in stumpfem Rot und Weiß gemalten
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