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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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ihn in den Kettenraum gehen, um eine Kette und ein Schloß zu holen. Er schlurfte davon und brummte die Anweisungen vor sich hin. Es war nicht das erste Mal, daß er hierhergekommen war, aber er war noch nie allein gegangen.
    Die Gemälde an den Wänden schienen sich im Licht der Laterne zu bewegen, zu zucken: große, unförmige menschliche Gestalten mit herabhängenden langen Flügeln, die in zeitloser Gleichgültigkeit hockten und standen.
    Sie kniete nieder und tröpfelte Wasser in den Mund des Gefangenen. Endlich hustete er und griff mit schwachen Händen nach dem Gefäß. Sie ließ ihn trinken. Er legte sich zurück, sein Gesicht war naß und mit Staub und Blut beschmiert. Er murmelte etwas, zwei oder drei Worte, in einer Sprache, die sie nicht verstand.
    Manan kehrte schließlich zurück, eine lange Kette mit Schloß und Schlüssel hinter sich herschleifend und einen Eisenring haltend, den er um die Taille des Mannes schlang und verschloß. »Der ist so dürr, er kann durchschlüpfen«, brummte er, als er das letzte Kettenglied an die Wand schloß.
    »Nein, schau her.« Arha, die jetzt weniger Angst vor ihrem Gefangenen hatte, zeigte ihm, daß sie ihre Hand nicht zwischen den eisernen Gürtel und die Rippen des Mannes zwängen konnte. »Er kann nicht, nur wenn er noch länger als vier Tage hungert.«
    »Kleine Herrin«, sagte Manan mit klagender Stimme, »ich will ja nichts in Frage stellen, aber … wie kann er denn ein Sklave der Namenlosen werden? Er ist doch ein Mann, Kleines!«
    »Und du bist ein alter Narr, Manan. Komm jetzt und hör auf zu schimpfen!«
    Der Gefangene sah sie aus aufmerksamen Augen prüfend an.
    »Wo ist sein Stab, Manan? Hier. Den nehme ich auch mit, darin steckt Zauberkraft. Oh, und das … das nehme ich auch mit.« Mit raschem Griff packte sie die Silberkette, die der Fremde um den Hals trug und die unter seinem Wams hervorschaute, und wollte sie ihm über den Kopf reißen, obwohl er ihre Arme festzuhalten und sie daran zu hindern versuchte. Manan trat ihm heftig in den Rücken. Sie zog dem Fremden die Kette über den Kopf und entzog sie seinem Zugriff. »Ist dies dein Talisman, Zauberer? Gilt er dir viel? Er sieht jämmerlich aus, konntest du dir keinen besseren leisten? Ich werde ihn sicher aufbewahren.« Sie legte sich die Kette selbst um den Hals und verbarg den Anhänger unter dem schweren Kragen ihres wollenen Kleides.
    »Sie können nichts damit anfangen«, sagte er heiser. Er sprach die kargischen Worte falsch, aber so klar aus, daß sie sie verstand.
    Manan trat ihm wieder in die Rippen, und der Gefangene stöhnte auf vor Schmerz und schloß die Augen.
    »Laß ihn in Ruhe, Manan. Komm!«
    Sie verließ den Raum. Manan folgte leise grollend.
    In der Nacht, als alles dunkel war, stieg sie wieder den Hügel hinauf, allein dieses Mal. Sie füllte den Wasserbehälter am Brunnen hinter dem Thronsaal und nahm das Wasser und einen großen, flachen, ungesäuerten Laib Buchweizenbrot mit hinunter in den Bemalten Raum im Labyrinth. Sie stellte alles in Reichweite des Gefangenen innerhalb der Tür. Er schlief und rührte sich nicht. Sie kehrte ins Kleinhaus zurück, und in dieser Nacht schlief auch sie lange und tief.
    Am frühen Nachmittag kehrte sie allein ins Labyrinth zurück. Das Brot war verschwunden, das Wasser getrunken, und der Gefangene saß aufrecht, mit dem Rücken zur Wand. Sein Gesicht sah noch immer schrecklich aus, verschmiert und verkrustet, aber er war wach und schaute sie aufmerksam an.
    Sie stand auf der anderen Seite des Raums, wo er sie unmöglich erreichen konnte, angekettet, wie er war. Sie schaute ihn an. Dann wandte sie die Augen von ihm ab. Aber es gab nichts, worauf sie die Blicke sonst hätte richten können. Etwas hielt sie vom Reden ab. Ihr Herz klopfte laut, als ob sie Angst hätte. Es lag kein Grund vor, sich vor ihm zu fürchten. Er war in ihrer Gewalt.
    »Es tut gut, Licht zu haben«, sagte er leise, mit einer tiefen Stimme, die sie verwirrte.
    »Wie heißt du?« fragte sie herrisch. Sie fand, daß ihre eigene Stimme ungewöhnlich hoch und dünn klang.
    »Nun, meistens werde ich Sperber genannt.«
    »Sperber? Heißt du so?«
    »Nein.«
    »Wie heißt du denn dann?«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sind Sie die Eine Priesterin der Gräber?«
    »Ja.«
    »Wie heißen Sie?«
    »Ich werde Arha genannt.«
    »Diejenige, die verzehrt wurde – das bedeutet es, nicht wahr?« Seine dunklen Augen ruhten auf ihr. Er lächelte ein wenig. »Und wie heißen

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