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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Sie?«
    »Ich habe keinen Namen. Stell keine Fragen. Wo kommst du her?«
    »Von den Innenländern. Aus dem Westen.«
    »Von Havnor?«
    Es war der einzige Name einer Stadt oder Insel, der ihr geläufig war.
    »Ja, aus Havnor.«
    »Warum kamst du hierher?«
    »Die Gräber von Atuan sind bekannt unter meinem Volk.«
    »Aber du bist ein Ungläubiger …«
    Er schüttelte den Kopf. »O nein, Priesterin. Ich glaube an die Mächte der Dunkelheit! Ich bin mit den Namenlosen an anderen Orten zusammengetroffen.«
    »An welchen anderen Orten?«
    »Im Inselreich – den Innenländern – gibt es einige Stellen, die den Uralten Mächten der Erde gehören. Aber keine ist so groß wie diese hier. Nirgends sonst haben sie einen Tempel und eine Priesterin, und nirgends werden sie verehrt wie hier.«
    »Du bist gekommen, um sie zu verehren?« höhnte sie.
    »Ich kam, um sie zu bestehlen«, erwiderte er.
    Sie starrte in sein ernstes Gesicht. »Aufschneider!«
    »Ich wußte, daß es nicht einfach wäre.«
    »Einfach? Es ist unmöglich! Wärst du kein Ungläubiger, so wüßtest du das. Die Namenlosen beschützen den Schatz.«
    »Was ich suche, gehört ihnen nicht.«
    »Es gehört dir, nehme ich an.«
    »Es steht mir zu, es mir zu nehmen.«
    »Wer bist du denn – ein Gott? Ein König?« Sie musterte ihn von oben bis unten, wie er dasaß, angekettet, schmutzig, erschöpft. »Du bist ein gemeiner Dieb.«
    Er gab keine Antwort, doch ihre Augen trafen sich.
    »Du hast kein Recht, mich anzuschauen!« schrie sie mit schriller Stimme.
    »Herrin«, sagte er, »ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich bin fremd hier, ein Eindringling. Ich kenne Ihre Sitten nicht und weiß nicht, wie man der Priesterin der Gräber begegnet. Ich bin Ihrer Gnade ausgeliefert, und ich bitte Sie um Entschuldigung, wenn ich Sie beleidigt habe.«
    Sie antwortete nicht, aber einen Moment später fühlte sie, wie ihr das Blut zu Kopf schoß, heiß und dumm. Aber er blickte sie nicht an und sah nicht, wie sie errötete. Er hatte ihr gehorcht und den dunklen Blick von ihr abgewandt.
    Beide schwiegen eine Weile. Die bemalten Figuren, die sie umgaben, betrachteten sie mit traurigen, blinden Augen.
    Sie hatte einen steinernen Krug mit Wasser mitgebracht. Seine Augen wanderten immer wieder dorthin, und nach ein paar Minuten sagte sie: »Trink, wenn du willst.«
    Er rutschte sofort hinüber zu dem Krug, hob ihn so leicht hoch, als wäre er ein Wasserglas, und nahm einen langen, langen Zug. Dann benetzte er ein Ende seines Ärmels und reinigte sein Gesicht und die Hände von Schmutz, Blut und Spinnweben, so gut er es vermochte. Er verbrachte eine geraume Zeit damit, und Arha schaute ihm zu. Als er fertig war, sah er besser aus, aber die flüchtige Reinigung hatte tiefe Narben an einer Seite des Gesichts enthüllt: alte, längst verheilte Narben, weißlich schimmernd auf der dunklen Haut, vier lange, parallel verlaufende Furchen, vom Auge bis zum Kinn, die aussahen, als hätten die Krallen einer riesigen Klaue sie verursacht.
    »Was ist das?« fragte sie. »Diese Narben?«
    Er antwortete nicht gleich.
    »Ein Drache?« fragte sie und versuchte spöttisch zu lächeln. War sie nicht gekommen, um ihr Opfer zu verspotten, um ihn in seiner Hilflosigkeit zu quälen?
    »Nein, kein Drache.«
    »Dann bist du wohl kein Drachenfürst?«
    »Doch«, sagte er zögernd, »ich bin ein Drachenfürst. Aber die Narben trug ich schon früher davon. Ich sagte Ihnen bereits, daß ich mit den Dunklen Mächten zusammengestoßen bin, an anderen Stellen auf dieser Erde. Dieses Zeichen auf meinem Gesicht hat einer zurückgelassen, der mit ihnen verwandt ist. Aber er ist nicht mehr namenlos, denn am Ende habe ich seinen Namen erfahren.«
    »Was soll das bedeuten? Welchen Namen?«
    »Den kann ich Ihnen nicht nennen«, entgegnete er und lächelte, obwohl sein Gesicht ernst blieb.
    »Das ist dummes Gerede, Narrengeschwätz, Götterlästerung. Wie sollten sie Namen haben? Es sind die Namenlosen! Du weißt nicht, wovon du redest …«
    »Priesterin, ich weiß es, besser als Sie selbst«, sagte er, und seine Stimme klang noch tiefer als zuvor. »Betrachten Sie es noch einmal!« Und er wandte den Kopf, so daß sie die vier schrecklichen Narben auf seiner Wange ansehen mußte.
    »Ich glaube dir nicht«, sagte sie, doch ihre Stimme klang unsicher.
    »Priesterin«, sagte er behutsam, »Sie sind noch nicht alt. Sie können den Dunklen Mächten noch nicht lange gedient haben.«
    »Doch, ich diene ihnen schon lange. Sehr

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