Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
du hast mir trotz allem vertraut. Und als ich dein Gesicht zum ersten Mal sah, ganz kurz nur, dort unten in der Höhle unter den Gräbern, seine Schönheit in der Dunkelheit, faßte auch ich Vertrauen zu dir. Du hast dein Vertrauen schon bewiesen. Ich gab dir nichts dafür. Ich gebe dir jetzt alles, was ich zu geben vermag. Mein wahrer Name ist Ged. Und das gehört dir.« Er war aufgestanden und streckte ihr den Halbring aus graviertem, durchbrochenem Silber entgegen: »Möge der Ring wieder geschlossen werden«, sagte er.
Sie nahm ihn aus seiner Hand entgegen. Sie zog die Silberkette, an der die andere Hälfte des Ringes hing, über den Kopf und nahm das Teil ab. Sie legte die beiden Stücke so auf ihre Handfläche, daß die zerbrochenen Enden sich berührten, und der Ring schien sich zu schließen.
Sie blickte nicht auf.
»Ich werde mit dir gehen«, sagte sie.
Der Zorn der Dunklen Mächte
ALS SIE DIESE WORTE gesprochen hatte, legte der Mann, dessen wahrer Name Ged war, seine Hand über ihre Hand, die den zerbrochenen Talisman hielt. Sie schaute überrascht auf und sah, wie das Leben und der Triumph seine Züge erstrahlen ließen. Sie erschrak und fürchtete sich vor ihm. »Du hast uns beide befreit«, sagte er. »Allein gewinnt niemand die Freiheit. Komm, laß uns keine Zeit vergeuden, so lange wir noch welche haben. Laß mich den Ring noch einmal sehen!« Sie hatte ihre Finger über den Silberstücken geschlossen; seiner Bitte gehorchend, öffnete sie ihre Hand wieder und hielt sie ihm hin; die zerbrochenen Stellen berührten sich.
Er nahm sie nicht, sondern legte seine Finger darauf. Er sprach einige Worte, und Schweiß bedeckte plötzlich seine Stirn. Sie fühlte ein seltsames, schwaches Beben auf ihrer Handfläche, so als hätte sich ein kleines, schlafendes Tier bewegt. Ged seufzte auf, seine Haltung entspannte sich, er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Hier«, sagte er und ergriff den Ring von Erreth-Akbe. Er schob ihn über ihre rechte Hand – er paßte gerade über die breiteste Stelle – und auf ihr Gelenk. »Hier«, sagte er und betrachtete ihn mit Befriedigung. »Er paßt. Es muß das Armband einer Frau oder eines Kindes gewesen sein.«
»Wird er halten?« murmelte sie unsicher und befühlte den kühlen, feinen Reif an ihrem dünnen Arm.
»O ja, er wird halten. Ich konnte keine einfache Bindeformel, wie sie ein Zauberweib zum Kesselflicken benutzt, am Ring von Erreth-Akbe wirken. Ich mußte eine Formel der Formgebung verwenden, um ihn wieder ganz zu machen. Jetzt ist er wieder geschlossen, so als ob er noch nie zerbrochen gewesen wäre. Tenar, jetzt müssen wir aber gehen. Ich trage die Tasche und das Wassergefäß. Nimm deinen Umhang. Noch etwas?«
Als sie nach dem Schloß an der Tür tastete, um sie aufzuschließen, sagte er: »Ich wollte, ich hätte meinen Stab«, und sie antwortete flüsternd: »Er ist hier, vor der Tür. Ich habe ihn mitgebracht.«
»Warum hast du ihn gebracht?« fragte er neugierig.
»Ich dachte … ich dachte, daß ich dich an die Tür bringen und dann fliehen lassen könnte.«
»Diese Wahl hattest du nicht. Du hättest mich als Sklaven behalten und selbst Sklavin sein können, oder du konntest mich befreien und dich selbst mitbefreien. Komm, Kleines, habe Mut und dreh den Schlüssel um!«
Sie drehte den Schlüssel mit dem Drachengriff im Schloß und öffnete die Tür in den niederen, dunklen Gang. Sie verließ den Großen Schatz der Gräber mit dem Ring von Erreth-Akbe am Arm, und der Mann folgte ihr.
Ein dumpfes Beben, ein Vibrieren, kein eigentliches Geräusch, wurde im Fels der Wände, des Bodens und der Decke spürbar. Es klang wie ferner Donner, wie ein riesiger Wasserfall in weiter Ferne.
Die Haare standen ihr zu Berge, und ohne zu überlegen, blies sie die Kerze in der Laterne aus. Sie spürte die Bewegung des Mannes hinter sich; seine ruhige Stimme sprach so nahe, daß sein Atem ihre Haare berührte: »Laß die Laterne hier. Ich kann Licht machen, wenn es nötig ist. Welche Tageszeit ist draußen?«
»Es war lange nach Mitternacht, als ich hierher kam.«
»Dann müssen wir uns beeilen.«
Aber er bewegte sich nicht. Es wurde ihr bewußt, daß sie vorangehen und führen mußte. Nur sie kannte den Weg aus dem Labyrinth, und er wartete, um ihr zu folgen. Sie begann den Rückweg, gebückt, denn der Gang war niedrig, aber sie schritt mutig voran. Von den unsichtbaren Seitengängen her kamen ein kalter Luftzug und scharfer Verwesungsgeruch, der
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