Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Hexerei zu den Gräbern und durch die Tür zwischen den roten Felsen gebracht hat.«
»Nicht nur Hexerei, sondern auch guter Rat. Wir schreiben mehr als ihr, glaube ich. Kannst du lesen?«
»Nein, das ist eine der Schwarzen Künste.«
Er nickte. »Aber es ist eine sehr nützliche«, sagte er. »Ein längst vergessener, erfolgloser Dieb hinterließ gewisse Beschreibungen der Gräber von Atuan und Anweisungen, wie man hineingelangt, wenn man die großen Zauberformeln des Öffnens wirken kann. Das fand ich alles in einem Buch in der Schatzkammer eines Prinzen von Havnor. Er ließ es mich lesen. So kam ich bis an das große, unterirdische Gewölbe …«
»Das Untergrab.«
»Der Dieb, der das aufgeschrieben hatte, glaubte, daß der Schatz sich dort im Untergrab befände. Deswegen habe ich dort gesucht, aber ich hatte das Gefühl, daß er tiefer im Labyrinth versteckt war. Ich kannte den Eingang zum Labyrinth, und als ich dich sah, ging ich dorthin, um mich zu verstecken. Das war natürlich ein Fehler. Die Namenlosen hatten mich bereits in ihrer Gewalt, und ich konnte nicht mehr klar denken. Und seither bin ich nur noch schwächer und dümmer geworden. Man darf ihnen nie nachgeben, man muß sich immer wehren, man muß stark und seiner selbst sicher bleiben. Das habe ich schon vor langer Zeit gelernt. Aber hier, wo sie so mächtig sind, fällt es einem schwer. Es sind keine Götter, Tenar. Aber sie sind stärker als jeder Mensch.«
Beide schwiegen lange.
»Was hast du noch in den Truhen gefunden?« fragte sie teilnahmslos.
»Plunder; Gold, Juwelen, Kronen, Schwerter; Zeug, das keinem, der jetzt lebt, gehört … Tenar, erzähl mir, wie du zur Priesterin der Gräber gewählt wurdest!«
»Wenn die Erste Priesterin stirbt, dann suchen sie in allen Ländern nach einem kleinen Mädchen, das in der gleichen Nacht geboren wurde. Sie finden immer eines, denn es ist die wiedergeborene Priesterin. Wenn das Kind fünf Jahre alt ist, bringen sie es hierher, und wenn es sechs Jahre alt ist, wird es den Namenlosen übergeben, und seine Seele wird verzehrt. Dann gehört es ihnen, und seit Urzeiten hat es ihnen gehört. Es hat keinen Namen.«
»Glaubst du das?«
»Ich habe immer daran geglaubt.«
»Glaubst du es jetzt noch?«
Sie antwortete nicht.
Wiederum breitete sich das dunkle Schweigen zwischen ihnen aus. Eine geraume Zeit verstrich, dann sagte sie: »Erzähl mir … erzähl mir von den Drachen im Westen!«
»Tenar, was willst du jetzt tun? Wir können nicht hier sitzen und uns Geschichten erzählen, bis die Kerze niedergebrannt ist und die Dunkelheit wiederkommt.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe Angst.« Sie saß aufrecht und preßte ihre Hände zusammen. Sie sprach laut, als hätte sie Schmerzen. Sie sagte: »Ich habe Angst vor der Dunkelheit.«
Er antwortete leise: »Du mußt dich entscheiden. Entweder du verläßt mich, verschließt die Tür, steigst hinauf zu deinem Altar und übergibst mich deinen Gebietern; dann gehst du zu Kossil und schließt Frieden mit ihr – und das ist das Ende der Geschichte –, oder du schließt die Tür auf und gehst durch die Tür mit mir. Und das ist der Anfang der Geschichte. Du mußt dich entschließen, entweder Arha oder Tenar zu sein – du kannst nicht beides sein.«
Die tiefe Stimme klang warm und fest. Arha blickte durch die Schatten in sein Gesicht, ein hartes, vernarbtes Gesicht, das jedoch keine Grausamkeit, nichts Arges verhehlte.
»Wenn ich den Dienst der Namenlosen verlasse, werden sie mich töten. Wenn ich diesen Ort verlasse, muß ich sterben.«
»Du wirst nicht sterben. Arha wird sterben.«
»Ich kann nicht …«
»Um wiedergeboren zu werden, muß man den Tod erleiden, Tenar. Es ist nicht so schwer, wie man es sich vorstellt.«
»Sie wird uns niemals herauslassen. Niemals.«
»Vielleicht nicht. Es lohnt sich, den Versuch zu wagen. Du verfügst über großes Wissen, ich beherrsche meine Künste, und wir beide zusammen haben …« Er hielt inne.
»Wir haben den Ring von Erreth-Akbe.«
»Ja, den auch. Aber ich dachte noch an etwas anderes, was uns allein gehört. Nennen wir es Vertrauen – das ist einer der Namen dafür. Es ist etwas ganz Großes. Allein ist jeder von uns schwach, doch was wir gemeinsam haben, macht uns stark, stärker als die Mächte der Finsternis.« Seine Augen leuchteten hell und klar aus dem vernarbten Gesicht. »Hör mir zu, Tenar! Ich kam als Dieb, als Feind, bewaffnet gegen dich, doch du hattest Mitleid mit mir,
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