Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
gekommen bist, und ich habe fast meine ganze Kraft aufgebraucht. Keiner kann den Dunklen Mächten allein lange widerstehen. Sie sind zu mächtig.« Er verstummte, seine Stimme war immer leiser geworden, und er schien vergessen zu haben, was er noch sagen wollte. Er rieb sich mit der Hand die Stirn und ging dann zur Wasserflasche, um einen Schluck zu trinken. Er brach ein Stück Brot ab und setzte sich auf die Truhe ihr gegenüber, um es zu essen.
Was er gesagt hatte, stimmte. Sie fühlte, wie ein Druck, ein Gewicht auf ihr lag, das ihre Gedanken und Gefühle beschwerte und verwirrte. Doch sie war nicht mehr so verstört wie zuvor, als sie allein durch die Gänge eilte. Der Gedanke an die furchtbare Stille außerhalb des Raumes war ihr unerträglich. Warum nur? Noch nie zuvor hatte sie die unterirdischen Orte gefürchtet. Aber bis jetzt war sie auch den Dunklen Mächten hörig gewesen, hatte noch nie gegen ihren Willen gehandelt.
Schließlich lächelte sie schwach. »Hier sitzen wir auf dem größten Schatz des Reiches«, sagte sie. »Der Gottkönig würde all seine Frauen für eine dieser Truhen eintauschen. Und wir haben noch nicht einmal wenigstens eine geöffnet und hineingeschaut.«
»Ich habe sie aufgemacht«, sagte Sperber kauend.
»In der Dunkelheit?«
»Oh, ich habe ein bißchen Licht gemacht, ein kleines Werlicht. Es war schwierig hier. Selbst mit meinem Stab wäre es schwer gewesen, und ohne Stab war es, als befände ich mich im Regen und versuchte, aus nassem Holz Feuer zu schlagen. Aber dann kam es doch. Und ich habe gefunden, was ich suchte.«
Sie hob ihr Gesicht langsam hoch und schaute ihn an: »Den Ring?«
»Den halben Ring. Du hast die andere Hälfte.«
»Ich? Die andere Hälfte ist verloren.«
»… und wurde wiedergefunden. Ich trug sie an einer Kette um den Hals. Du hast sie genommen und mich gefragt, ob ich mir keinen besseren Talisman leisten könne. Der einzige Talisman, der besser wäre als der halbe Ring von Erreth-Akbe, wäre der ganze Ring. Aber wie man so sagt, ein halber Laib ist besser als gar keiner. Ich habe also deine Hälfte, und du hast die meine.« Er lächelte ihr über die Schatten des Grabes zu.
»Als ich sie genommen habe, hast du behauptet, ich wüßte nicht, was ich damit tun solle.«
»Das stimmt.«
»Und weißt du es jetzt?«
Er nickte.
»Dann sag es mir. Erzähl mir, welche Bewandtnis es mit dem Ring auf sich hat, und wie du die verlorene Hälfte gefunden hast, und wie und warum du hierhergekommen bist. Das muß ich alles erfahren, und dann weiß ich vielleicht, was ich tun muß.«
»Ja, vielleicht wirst du es dann wissen. Also gut. Welche Bewandtnis hat es mit dem Ring von Erreth-Akbe? Nun, du kannst selbst sehen, daß er nicht sonderlich wertvoll ist, und er ist eigentlich nicht einmal ein Ring. Er ist zu groß dafür. Vielleicht ein Armreif, aber dafür ist er wieder zu klein. Kein Mensch weiß, für wen er gemacht wurde. Elfarran die Lichte hat ihn einmal getragen, bevor die Insel Soléa im Meer versank, und damals war der Ring schon alt. Schließlich kam er in den Besitz von Erreth-Akbe … Er ist aus reinem Silber und hat neun Runen, die Macht verleihen. Deine Hälfte trägt viereinhalb Runen und meine ebenfalls. Der Bruch ging durch ein Runensymbol und hat es zerstört. Seither nennt man diese Rune die ›verlorene‹. Magier kennen die anderen acht: Pirr, die vor Wahnsinn, Wind und Wetter schützt, Ges, die Ausdauer verleiht, und so weiter. Doch die zerbrochene Rune war diejenige, welche die Länder verbunden hatte. Es war die Binderune, das Zeichen des Weltreiches, das Zeichen des Friedens. Ein König, der nicht unter dem Zeichen dieser Rune regiert, ist kein guter Herrscher. Niemand weiß, wie diese Rune geritzt wurde. Und seit sie verloren ist, gibt es keine großen Könige in Havnor mehr. Aber es gab viel Fürsten und Tyrannen, Kriege und Streit unter den Ländern der Erdsee. Daher beschlossen die weisen Fürsten und Magier der Innenländer, nach dem Ring von Erreth-Akbe zu fahnden, damit die verlorene Rune wieder hergestellt würde. Aber schließlich gaben sie es auf, weitere Männer auszuschicken und den Ring zu suchen, denn keiner konnte die Hälfte, die sich in den Gräbern von Atuan befand, wiedererlangen, und die andere Hälfte, die Erreth-Akbe einem kargischen König gegeben hatte, war auch verschwunden. Sie kamen überein, daß es keinen Wert mehr hatte, weiter danach zu suchen und stellten die Suche ein. Das war vor vielen hundert
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