Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Jahren.
Jetzt komme ich zur eigentlichen Geschichte. Als ich nur ein wenig älter war als du, fuhr ich auf einer … auf einer Art Jagd über die See. Das, was ich jagte, hatte mich irregeleitet, und ich wurde auf eine verlassene Insel geworfen, die nicht weit von der Küste von Karego-At und Atuan liegt, südwestlich von hier. Sie war ganz klein, nicht viel größer als eine Sandbank, mit ein paar langen, grasbewachsenen Dünen in der Mitte und einer kleinen Quelle; das war alles.
Dort hausten zwei Leute. Ein alter Mann und eine Frau; ich glaube, es waren Bruder und Schwester. Sie waren zu Tode erschrocken, als sie mich sahen. Sie hatten seit – oh, wie lange schon? –, seit Jahren, Jahrzehnten, kein menschliches Gesicht mehr gesehen. Aber ich kam zu ihnen, meine Not war groß, und sie waren gut zu mir. Sie hatten eine kleine Hütte aus Treibholz und ein Feuer. Die alte Frau gab mir zu essen, Muscheln, die sie bei Ebbe von den Felsen absammelte, getrocknetes Fleisch von Seevögeln, die sie mit Steinen erlegten. Sie hatte Angst vor mir und gab mir trotzdem zu essen. Als sie merkte, daß sie mich nicht zu fürchten hatte, wurde sie zutraulicher und zeigte mir ihre Schätze. Sie hatte auch wirklich einen Schatz … Es war ein kleines Kleid aus Seidenzeug mit Perlen, ein Kinderkleid, das Kleid einer kleinen Prinzessin. Sie aber trug ein ungegerbtes Seehundsfell.
Unterhalten konnten wir uns nicht. Damals sprach ich noch nicht Kargisch, und sie verstanden die Sprachen des Innenreiches nicht, selbst ihre eigene kannten sie nicht gut. Man hatte sie, als sie noch jung waren, hierhergebracht, damit sie sterben sollten. Ich weiß nicht, warum, ich bezweifle, daß sie es wußten. Sie kannten nur die Insel, den Wind und das Meer. Aber als ich fortging, gab die Frau mir ein Geschenk. Sie gab mir die verlorene Hälfte von Erreth-Akbes Ring.«
Er schwieg eine Weile.
»Damals wußte ich genauso wenig wie sie, was es wirklich war. Die größte Gabe des Jahrhunderts, von einer unwissenden, alten Frau in Seehundsfellen einem dummen Jungen gegeben, der sie in seine Tasche stopfte, ›Danke‹ sagte und davonsegelte … Na ja, ich bin weitergesegelt und tat, was ich tun mußte. Aber dann kam anderes dazwischen, und ich fuhr zu den Dracheninseln im Westen und so weiter. Und die ganze Zeit behielt ich den Ring bei mir, denn ich war dankbar und gerührt gewesen, daß diese alte Frau mir das einzige Geschenk gab, das sie geben konnte. Und eines Tages auf Selidor, das ist eine ferne Insel, auf der Erreth-Akbe im Kampf mit dem Drachen Orm fiel – auf Selidor sprach ich mit einem Drachen, einem Nachkommen von Orm, und er sagte mir, was ich auf meiner Brust trug.
Er fand natürlich komisch, daß ich es nicht wußte. Drachen finden uns meistens komisch. Aber an Erreth-Akbe erinnern sie sich. Von ihm sprechen sie, als sei er ein Drache gewesen und kein Mensch.
Als ich zu den Innenländern zurückkehrte, ging ich nach Havnor. Ich bin auf Gont geboren, nicht allzu weit westlich von Kargad, und ich war viel herumgewandert, doch nach Havnor war ich noch nie gekommen. Es war Zeit, daß ich dort hinging. Ich sah die weißen Türme, und ich sprach mit den bedeutenden Männern dort, den Kaufleuten, Prinzen und Fürsten der alten Länder. Ich erzählte ihnen, was ich besaß, und ich erbot mich, wenn sie es wünschten, zu den Gräbern von Atuan zu gehen, um die verlorene Rune wiederzufinden, den Schlüssel zum Frieden. Denn wir haben Frieden bitter nötig auf dieser Welt, bitter nötig. Sie rühmten und priesen mich, und einer von ihnen gab mir sogar Geld, um mein Boot für die Reise auszustatten. Und ich lernte die Sprache, die hier gesprochen wird, und kam nach Atuan.«
Er schwieg und blickte in die Schatten vor sich.
»Erkannten dich die Leute in unseren Städten nicht? Merkten sie nicht an deiner Hautfarbe und Sprache, daß du aus dem Westen kamst?«
»Oh, es ist nicht schwer, Leute hinters Licht zu führen«, sagte er geistesabwesend, »man muß sich nur mit Hilfe von Illusionszaubereien etwas ändern, und niemand, nur ein anderer Magier, kann dich durchschauen. Und hier auf Kargad gibt es ja keine Zauberer und keine Magier. Und das ist auch eine seltsame Sache. Vor langer Zeit schon wurden alle Zauberer von hier verbannt, und die Kunst der Magie wurde verboten, und heute glaubt fast keiner mehr daran.«
»Mich haben sie gelehrt, nicht daran zu glauben. Magie widerspricht den Lehren der Priesterkönige. Aber ich weiß, daß dich nur
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