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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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geschlossenen Tür mit seiner Hand am Messergriff. Das graue Licht und das schmutzige Zimmer, die beiden knienden Gestalten, der seltsame, verhaltene Ton in der Stimme des Magiers, der in der Drachensprache redete, all dies verdichtete sich wie zu einem Traum, der mit der Umgebung nicht in Berührung stand, ja außerhalb der Zeit selbst lag.
    Hase erhob sich langsam. Er klopfte sich den Staub von den Knien und verbarg die verstümmelte Hand hinter dem Rücken. Er schaute sich um, blickte auf Arren. Jetzt nahm er wahr, was er sah. Schließlich wandte er sich um und setzte sich auf die Matratze. Arren blieb stehen, wachsam. Sperber jedoch, mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen, der in seiner Jugend keine Möbel gekannt hatte, setzte sich mit überkreuzten Beinen auf den nackten Boden.
    »Sag mir, wie du deine Kunst und ihre Sprache verloren hast!«
    Hase antwortete nicht sofort. Er schlug sich mit dem verstümmelten Arm in ruheloser, fahriger Weise gegen die Schenkel und sagte endlich mit Anstrengung und langen Pausen: »Sie haben meine Hand abgehackt. Ich kann keine Formeln mehr wirken. Sie haben mir die Hand abgehackt. Das Blut lief heraus, alles Blut lief heraus …«
    »Aber das geschah, nachdem du deine Macht verloren hattest, Hase, sonst hätten sie es ja nicht getan.«
    »Macht …?«
    »Macht über Wind und Wellen und Menschen. Du hast sie bei ihrem Namen gerufen, und sie haben dir gehorcht.«
    »Ja, ich erinnere mich, ich habe gelebt«, sagte der Mann mühsam und mit leiser Stimme. »Und ich wußte die Worte und die Namen …«
    »Bist du jetzt tot?«
    »Nein, lebendig, lebendig. Nur – ich war einmal ein Drache … Ich bin nicht tot. Manchmal schlafe ich. Schlaf ist dem Tod nah verwandt, das weiß jeder. Die Toten gehen in den Träumen um, das weiß jeder. Sie kommen zu dir und sagen dir Dinge. Sie kommen aus dem Tod in deine Träume. Es gibt einen Weg. Und wenn du weit genug gegangen bist, dann gibt es auch einen Weg zurück. Ganz zurück. Du kannst ihn finden, wenn du weißt, wo er ist. Und wenn du bereit bist, den Preis dafür zu zahlen.«
    »Welchen Preis?« Sperbers Stimme schwebte in der trüben Luft wie die Erinnerung an ein fallendes Blatt.
    »Leben – was denn sonst? Womit kannst du Leben kaufen? Mit Leben.« Hase wiegte seinen Oberkörper hin und her auf der Matratze. Ein lauerndes, unheimliches Glitzern trat in seine Augen. »Siehst du«, sagte er, »sie können mir die Hand abhacken; auch meinen Kopf können sie abhauen. Das macht nichts. Ich finde den Weg zurück. Ich weiß, wo er ist. Nur ein Mensch mit Macht kann dorthin.«
    »Zauberer, meinst du?«
    »Ja«, Hase zögerte, versuchte wiederholt, das Wort herauszubringen, und gab es dann auf. »Menschen mit Macht«, wiederholte er. »Und sie müssen – sie müssen es aufgeben. Zahlen.«
    Dann schwieg er verdrossen. Vielleicht hatte das Wort ›zahlen‹ Gedankengänge in ihm wachgerufen, und er merkte, daß er Auskunft verschenkte, anstatt sie zu verkaufen. Kein weiteres Wort war mehr aus ihm herauszubekommen, selbst sein Stammeln und Stottern über den ›Weg zurück‹, über den Sperber so gerne mehr erfahren hätte.
    Der Magier erhob sich: »Na ja, halbe Antworten sind besser als keine«, sagte er, »und das gleiche gilt für Bezahlung«, und geschickt wie ein Taschenspieler warf er eine Goldmünze in die Höhe, die zielgenau vor Hase auf der Matratze landete.
    Hase hob sie auf. Er blickte sie an und schaute dann mit einer fahrigen Kopfbewegung auf Sperber und Arren. »Warte«, stotterte er. Doch sein Zustand hatte sich verschlechtert, und er hatte Mühe, noch etwas zu sagen. Er quälte sich, und endlich kam es stoßweise: »Heut abend«, und nach einer weiteren qualvollen Pause: »Warte! Heute abend. Ich habe Hazia.«
    »Ich brauche kein Hazia.«
    »Ich zeig dir … ich zeig dir den Weg. Heute abend. Ich nehme dich mit. Ich zeig es dir. Du kannst dorthin gehen, denn du … du bist …«
    Er suchte vergeblich nach dem Wort, bis Sperber sagte: »Ich bin ein Zauberer.«
    »Ja! Daher können wir … können wir dorthin gehen. Zu dem Weg … wenn ich träume … im Traum … Verstehst du? Ich nehme dich mit. Du gehst mit mir zu dem … zu dem Weg.«
    Sperber stand wie angewurzelt inmitten des düsteren Zimmers und überlegte. »Vielleicht«, sagte er endlich. »Wenn wir kommen, dann werden wir hier sein, wenn es dunkel wird.« Er löste sich und wandte sich zu Arren, der sofort die Tür öffnete, froh, endlich hier

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