Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
uns bevorsteht. Wir reden, und es scheint nichts Wichtiges zu sein, weil wir die Bedeutung nicht erkennen wollen.«

Lorbanery
    AUS ZEHN MEILEN ENTFERNUNG sah Lorbanery ganz grün aus, so grün wie das Moos am Rande eines Brunnens. Im Näherkommen unterschied man Blätter und Baumstämme, Straßen und Häuser, Gesichter und Kleidung von Menschen, den Staub, die Schatten, kurzum alles, was zu einer von Menschen bewohnten Insel gehört. Doch der Gesamteindruck blieb: Lorbanery war eine grüne Insel, auf der jedes Stückchen Land, das nicht bebaut war und auf dem niemand einherschreiten konnte, mit den kleinen, runden Hurbabäumen bepflanzt war. Von den Blättern dieser Bäume ernähren sich Raupen, aus deren Kokons sich dünne Seidenfäden aufspulen lassen. Die Männer, Frauen und Kinder auf Lorbanery spinnen diese Fäden zu Garn, das sie danach zu feinen Geweben verarbeiten. In der Dämmerung flitzen Hunderte von Fledermäusen durch die Luft, die wiederum die Seidenraupen fressen. Und die Leute von Lorbanery wehren ihnen nicht, ja sie betrachten es sogar als unglücksbringend, eine dieser grauflügeligen Fledermäuse zu töten. Denn, so sagen sie, wenn wir Menschen von den Seidenraupen leben, so haben die kleinen Fledermäuse das gleiche Recht dazu.
    Die Häuser sahen lustig aus; ihre kleinen Fenster waren ganz unregelmäßig angeordnet und ihre Dächer mit Hurbazweigen gedeckt, die ihren Bewuchs aus Moos und Flechten üppig über die Häuserwände wölbten. Es mußte einst eine wohlhabende Insel gewesen sein; erstaunlich, wenn man in Betracht zog, daß sie in einem der Außenbereiche lag, deren Inseln gewöhnlich ärmer als die des Innenmeeres sind. Spuren einstigen Reichtums gab es noch allenthalben. Man konnte sehen, daß die Häuser einst sorgfältig verputzt und gut eingerichtet gewesen waren; große Spinnräder waren noch zu sehen, mächtige Webstühle und Hallen, wo früher geschäftig gearbeitet worden war; der Hafen von Sosara wies zahlreiche aus Stein gebaute Piers auf, an denen Dutzende von Galeeren gleichzeitig festmachen konnten. Doch die Anlegestellen blieben leer, der Verputz an den Häusern bröckelte, die Möbel waren alt und wurmstichig, und die Spinnräder und Webstühle standen still, Staub lagerte darauf, und Spinnweben zogen sich von Pedal zu Pedal, von den Kettfäden zu den Rahmen.
    »Zauberer?« sagte der Bürgermeister von Sosara, ein kleiner Mann mit einem Gesicht, das so hart und lederbraun war wie die Sohlen seiner nackten Füße. »In Lorbanery gibt es keine Zauberer, hat es noch nie welche gegeben.«
    »Wer hätte das gedacht!« sagte Sperber erstaunt. Er saß mit einigen Dorfbewohnern zusammen und trank Hurbabeerenwein, ein dünnes, bitteres Getränk. Er hatte sie notgedrungen weismachen müssen, daß er und sein Gefährte in den Südbereich gesegelt seien, um Emmelsteine zu suchen, aber darüber hinaus verstellte er sich diesmal nicht. Arren hatte sein Schwert wieder auf dem Boot gelassen, und solange Sperber seinen Stab bei sich trug, waren sie gut genug gerüstet. Die Dorfbewohner hatten sie zunächst mißtrauisch beäugt, und es sah eine Weile so aus, als ob sie sich feindlich verhalten wollten, aber dank Sperbers Geschick im Umgang und seiner Gewandtheit mit Worten durften sich am Ende beide den Einheimischen zugesellen – mit Vorbehalt allerdings. »Hier muß es Leute geben, die gut mit Bäumen umzugehen wissen«, sagte er jetzt. »Was macht ihr denn, wenn ein später Frost kommt?«
    »Nichts«, antwortete ein magerer Mann am Ende der Reihe. Sie saßen alle nebeneinander unter dem Dachvorsprung eines Wirtshauses mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt, und gleich vor ihren nackten Füßen klatschte ein warmer Aprilregen auf die Erde.
    »Regen, nicht Frost, richtet Schaden an«, sagte der Bürgermeister. »Die Kästen mit den Raupen verfaulen. Kein Mensch hält Regen zurück. Hat noch keiner fertiggebracht.« Fragen nach Zauberern und Zauberei schienen ihn aufzubringen, einige der anderen waren freilich weniger erbost, und einer stellte fest: »Hat nie geregnet, nicht zu dieser Jahreszeit jedenfalls, als der Alte noch am Leben war.«
    »Wer? Der alte Mildi? Der lebt nicht mehr. Der ist tot«, sagte der Bürgermeister.
    »Baumgärtner haben sie ihn geheißen«, erinnerte sich der Magere. »Stimmt. Baumgärtner hieß er«, bestätigte ein anderer. Alle schwiegen, der Regen fiel nun gleichmäßig.
    Arren saß am Fenster im Inneren der Gaststätte, die nur aus einem Raum bestand. Er

Weitere Kostenlose Bücher