Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
gekannt, der sie unbekümmert benutzte, ohne die Gefahr zu achten. Denn Tote zu wecken ist gefährlich, weit mehr als alle andere Magie. Wie gesagt, Leben und Tod sind wie die beiden Seiten meiner Hand, doch in Wahrheit wissen wir nicht, was Leben und Tod wirklich bedeuten. Und sich Macht anzumaßen über etwas, das man gar nicht wirklich versteht, ist nicht weise, und es ist unwahrscheinlich, daß je etwas Gutes dabei herauskommen wird.«
»Wer war der Mann, der sie gebrauchte?« fragte Arren. Er hatte Sperber noch nie so nachdenklich und doch aufgeschlossen gefunden, noch nie so willig, Fragen zu beantworten. Beiden tat es gut, miteinander zu reden, obwohl das Unheimliches berührte.
»Er wohnte in Havnor. Er war nur ein einfacher Zauberer, der keinen Stab erworben hatte, aber er war ein mächtiger Magier. Er benutzte seine Kunst, um Geld zu verdienen. Er zeigte jedem, der zahlen konnte, den Geist, den er sehen wollte, eine tote Ehefrau, einen toten Ehemann, ein Kind, sein Haus war voll aufgestörter Geister vergangener Jahrhunderte, darunter auch die schönen Frauen alter Zeit, als wir noch einen König hatten. Ich war Zeuge, wie er meinen alten Meister Nemmerle, der Erzmagier zu Rok war in meinen jungen Jahren, zu sich rief, nur um die Schaulust der Leute, die nichts zu tun hatten, zu befriedigen. Und diese große Seele mußte dem Ruf folgen und kam gehorsam wie ein Hund zu seinem Herrn. Ich war aufgebracht und habe ihn herausgefordert – damals war ich noch nicht Erzmagier – und sagte zu ihm: ›Sie nötigen die Toten, in Ihr Haus zu kommen, folgen Sie mir in deren Haus!‹ Und ich habe ihn gezwungen, mir in das Trockene Land zu folgen, obgleich er sich mit seiner ganzen Macht dagegen sträubte, seine Gestalt veränderte und laut heulte. Aber es half ihm alles nichts.«
»Sie haben ihn getötet?« flüsterte Arren gebannt.
»Nein! Ich habe ihn nur gezwungen, mir in das Land des Todes zu folgen und wieder mit mir zurückzukehren. Er hatte Angst. Er, der den Toten gebot, zu ihm zu kommen, hatte schreckliche Angst vor dem Tod – seinem eigenen Tod; noch nie habe ich einen Menschen gesehen, der größere Angst hatte! Nun, und als wir zu der Steinmauer kamen … aber ich erzähle dir mehr, als ein Novize zu wissen braucht. Und du bist noch nicht einmal ein Novize.«
Die klaren Augen drangen durch die Dämmerung und erwiderten Arrens Blick; sie dämpften seine Wißbegierde ein wenig. »Es macht wohl nichts«, fuhr der Erzmagier fort, »da gibt es also eine Steinmauer, sie befindet sich an einer bestimmten Stelle, dort wo auch die Grenze ist. Nach dem Tod geht der Geist über diese Mauer, und ein lebender Mensch kann diese Mauer nicht übersteigen, nur einem Magier ist es möglich … Und an dieser Steinmauer hatte sich der Mann hingekauert, auf der Seite des Lebens, und er hat versucht, meinem Willen zu widerstehen, und er konnte es nicht. Er hat sich mit den Händen an den Steinen festgekrallt und hat geflucht und gefleht. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich solche Feigheit gesehen. Mir wurde ganz übel von diesem Anblick. Daran hätte ich erkennen müssen, daß ich unrecht tat. Aber ich war zu stolz und zu eingebildet. Denn er war sehr mächtig, und ich war versessen darauf, zu beweisen, daß ich der Mächtigere war.«
»Was tat er später – nachdem sie zurückgekommen waren?«
»Im Staube gekrochen ist er und schwor, nie mehr die palnische Zauberkunst zu wirken, er küßte meine Hände und hätte mich doch umgebracht, wenn er den Mut dazu aufgebracht hätte. Er hat Havnor verlassen und ging in den Westen, vielleicht nach Paln. Jahre später habe ich gehört, daß er gestorben ist. Als ich ihn kannte, war er schon weißhaarig, aber er hatte lange Arme und war so gelenkig wie ein Ringer. Wie kam ich darauf, von ihm zu sprechen? Ich kann mich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern.«
»An seinen wahren Namen?«
»Nein! An den kann ich mich noch erinnern …« Er hielt inne, und drei Herzschläge lang war es totenstill.
»Cob nannten sie ihn in Havnor«, sagte er, und seine Stimme klang verändert, nachdenklich, vorsichtig. Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck wahrzunehmen. Arren sah, wie er sich dem gelben Stern zuwandte, der nun schon hoch über den Wellen stand und einen gebrochenen, goldenen Pfad über sie warf, so fein und schmal wie der Faden einer Spinne. Lange schwieg er; dann sprach er: »Siehst du, nicht nur in Träumen, sondern in schon längst Vergessenem sehen wir, was
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