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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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ganzen unheimlichen Wesens«, sagte der Magier kurz. »Irgendwo ist der Ort, wo das Glück durchrinnt. Und dorthin, zu diesem Ort, brauche ich einen Führer!« Und er ging weiter, ohne anzuhalten, und Arren hatte keine andere Wahl, er mußte ihm folgen.
    Das Haus stand abseits von den Baumgärten, die zu ihm gehörten. Es war ein stattliches Haus, aber es sah ziemlich verwahrlost aus, genauso verwahrlost wie die Felder ringsum. Die Kokons ungesammelter Seidenraupen hingen, teils zerfetzt, an den leeren Zweigen, und auf dem Boden darunter lagerten graue Schichten toter Larven und Motten. Von dem Haus, das unter Bäumen stand, ging ein Geruch der Verwesung aus, der Arren unvermittelt an den entsetzlichen Traum der vergangenen Nacht erinnerte.
    Sie hatten das Haus noch nicht ganz erreicht, als die Tür aufflog und eine grauhaarige Frau mit geröteten Augen herausstürzte und schrie: »Fort, fort mit euch! Ihr Lumpenpack, ihr Diebe, ihr Verleumder, ihr Lügner, ihr Schafsköpfe, ihr Geschmeiß! Fort mit euch! Seid verflucht, ihr Gesindel!«
    Sperber blieb ziemlich überrascht stehen, dann hob er die Hand und vollführte eine seltsame Geste. Er sprach nur ein Wort: »Wende!«
    Die Frau blieb wie angewurzelt stehen, als sie das hörte. Sie starrte ihn an.
    »Warum hast du das getan?«
    »Um deinen Fluch von uns abzuwenden.«
    Sie starrte noch immer; schließlich sagte sie mit rauher Stimme: »Fremde?«
    »Aus dem Norden.«
    Sie näherte sich. Arren war zuerst versucht gewesen, über das alte Weib, das schreiend aus der Tür sprang, zu lachen. Doch als sie näher kam, schämte er sich. Sie war abstoßend und trug nur Lumpen, ihr Atem roch schlecht, doch ihre starrenden Augen sprachen von Schmerz und Pein.
    »Ich habe keine Macht zum Fluchen mehr«, sagte sie gequält, »keine Macht.« Sie ahmte Sperbers Geste nach. »Das macht man immer noch dort, wo du herkommst?«
    Er nickte. Sein Blick ruhte auf ihr, und sie erwiderte ihn. Nach einer Weile veränderten sich ihre Züge, und sie fragte: »Wo ist dein Stab?«
    »Den zeige ich nicht hier, Schwester.«
    »Natürlich, du hast recht. Er hält dich vom Leben ab. Wie meine Macht; sie hat mich auch vom Leben abgehalten. Deswegen habe ich sie verloren. Alles, was ich gewußt habe, alles habe ich verloren, all die Worte, all die Namen. Mit winzigen Fäden, wie Spinnenfäden, kamen sie mir aus den Augen und aus dem Mund heraus. Die Welt hat einen Riß, und alles Licht rinnt heraus. Und mit dem Licht verschwinden die Worte. Wußtest du das? Mein Sohn hockt den ganzen Tag da und blickt ins Dunkel. Er sucht den Riß in der Welt. Er sagt, er würde besser sehen, wenn er blind wäre. Er hat seine Färberhand verloren. Wir waren die Färber von Lorbanery. Schau her!« Sie schüttelte ihren dünnen, aber erstaunlich muskulösen Arm vor ihren Augen, der bis zum Ellenbogen von unaustilgbaren Farben schwach gestreift war. »Es läßt sich nie ganz von der Haut abwaschen«, sagte sie. »Aber der Geist, der läßt sich abwaschen, der erinnert sich nicht mehr an die Farben. Wer bist du?«
    Sperber antwortete nicht. Wiederum blickte er sie unverwandt an, und Arren, der daneben stand, wurde es unheimlich zumute.
    Plötzlich begann sie zu zittern und flüsterte: »Ich kenne dich …«
    »Gewiß. Gleich und gleich erkennt sich, Schwester.«
    Arren beobachtete gebannt, wie sie schreckensbleich vor dem Magier zurückwich und fliehen wollte – und doch von ihm angezogen wurde und das Verlangen hatte, sich ihm zu Füßen zu werfen.
    Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. »Willst du deine Macht zurückhaben, deine Kunst, die Namen? Ich kann sie dir wiedergeben.«
    »Du bist der Große«, flüsterte sie. »Du bist der König der Schatten, der Fürst des dunklen Reiches …«
    »Nein, der bin ich nicht. Ich bin kein König. Ich bin ein Mensch, sterblich, dein Bruder und dir ähnlich.«
    »Aber du wirst nicht sterben?«
    »Doch, ich werde sterben.«
    »Aber du wirst zurückkehren und ewig weiterleben.«
    »Nein. Kein Mensch kann das.«
    »Dann bist du nicht … nicht der Große, der Fürst der Dunkelheit«, sagte sie mit gerunzelter Stirn und schaute ihn schräg und weniger furchtsam von der Seite an. »Aber du bist auch ein Großer. Gibt es denn zwei? Wie heißt du?«
    Sperbers harte Züge entspannten sich ein wenig. »Das kann ich dir nicht sagen«, sagte er sanft.
    »Ich werde dir etwas verraten«, sagte sie. Sie hatte sich aufgerichtet und blickte ihm nun voll ins Gesicht; in ihrer Stimme und in

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