Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
Trinklied an, vom Wein, der so lieblich und rein, mit einem Trallala und einem Fallala am Ende, doch niemand fiel in den Kehrreim ein, und er sang sein Lied nicht zu Ende.
»Selbst das Singen gelingt nicht mehr«, sagte er ärgerlich. »Da sind die jungen Leute dran schuld, alles muß gekürzt und geändert werden, alles Alte ist schlecht, und keiner will mehr die alten Lieder lernen!«
»Das ist es nicht«, sagte der Magere. »Nichts gelingt mehr. Nichts ist mehr so, wie es war. Das Glück hat uns verlassen.«
»Stimmt, stimmt«, ließ sich die dünne Stimme des alten Mannes vernehmen. »Das Glück fehlt. Fort ist’s. Daran liegt’s.«
Darauf ließ sich nichts erwidern, und die Dorfbewohner verließen das Gasthaus zu zweit und zu dritt, bis Sperber allein draußen vor dem Fenster saß. Und Arren hörte drinnen, wie er lachte, aber es war ein bitteres Lachen.
Die scheue Frau des Schankwirts kam, breitete Strohsäcke und Decken auf dem Boden für sie aus und verschwand sofort wieder. Sie legten sich zum Schlafen nieder. Zahllose Fledermäuse nisteten im hohen Dachgebälk und flogen die ganze Nacht mit unaufhörlichem Gepiepse durch die Dachluken aus und ein. Erst als die Morgendämmerung kam, kehrten sie alle zurück und hängten sich an die Dachbalken, sorgfältig aneinandergereiht wie kleine graue Bündelchen.
Vielleicht war die Rastlosigkeit der Fledermäuse an Arrens unruhigem Schlaf schuld. Doch viele Nächte schon hatte er nicht mehr an Land geschlafen; sein Körper war nicht mehr an die bewegungslose Erde gewöhnt und bestand darauf, daß er geschaukelt werde, bevor er einschliefe, doch dann – plötzlich – tat sich der Boden unter ihm auf, und er erwachte mit einem Ruck. Dann, als er endlich wieder einschlief, träumte er, im Laderaum des Sklavenfängers angekettet zu sein, und die Männer, an die er gekettet war, waren alle tot. Mehr als einmal schreckte er aus diesem Traum auf und versuchte ihn zu vergessen, doch sobald er wieder einschlief, nahm der gleiche grausige Traum seinen Fortgang. Schließlich fand er sich allein auf diesem Schiff, doch war er noch immer angekettet und konnte sich nicht bewegen. Dann vernahm er eine ganz merkwürdige Flüsterstimme, die ihm langsam ins Ohr zischelte: »Be … frei … dich … von … dei … nen … Fes … seln!« und noch einmal: »Be … frei …« Daraufhin versuchte er, sich zu bewegen, und siehe da, er konnte es. Er stand auf. Er schaute sich um und sah ein immenses, dunkel verhangenes Moor unter einem tiefen bleiernen Himmel. Die Erde und die stickige Luft erfüllten ihn mit Grauen. Dieser Ort war die Furcht selbst, er bestand aus Beklemmung und Schrecken. Und er, Arren, stand inmitten dieses Ortes, und es gab keinen Weg, und er war ganz klein, wie ein Kind, wie eine Ameise, und der Ort war grenzenlos, endlos, unheimlich. Er versuchte zu gehen, stolperte und wachte dann auf.
Jetzt, da er nicht mehr schlief, schlich sich die Furcht in sein Herz; sie war jetzt in ihm, er war nicht mehr in ihr, und sie war nicht geringer geworden, sie war noch immer grenzenlos. Er glaubte in dem dunklen Raum ersticken zu müssen, und suchte mit den Augen nach den Sternen im schwachumrissenen Viereck des Fensters, doch keine Sterne waren zu sehen, obwohl der Regen aufgehört hatte. Er lag wach auf seinem Lager und fürchtete sich. Die Fledermäuse flogen ein und aus, auf lautlosen, ledernen Schwingen, und er konnte ihre wispernden Stimmen, an der Schwelle der Hörbarkeit, ab und zu vernehmen.
Der Morgen brach hell an. Sie standen sehr früh auf, und Sperber erkundigte sich überall ernsthaft nach Emmelstein. Einige der Dorfbewohner glaubten zu wissen, was Emmelstein war, doch jeder hatte seine eigene Ansicht, die er sich von keinem nehmen ließ, und es entspannen sich darüber hitzige Wortwechsel. Sperber hörte aufmerksam zu, aber es war nicht das Für und Wider des Emmelsteins, das ihn beschäftigte, er spitzte vielmehr die Ohren, um einen Einblick in andere Dinge zu erlangen. Schließlich folgten sie dem Rat des Bürgermeisters und machten sich auf den Weg zu einem Steinbruch, wo das Mineral für den blauen Farbstoff gebrochen wurde. Doch Sperber wandte sich bald vom Weg ab.
»Das hier muß das Haus sein«, sagte er. »Hier an diesem Weg muß die Familie der Färber und der in Ungnade gefallene Zauberer wohnen.«
»Lohnt es sich denn, mit ihnen zu reden?« fragte Arren, der sich nur noch allzugut an Hase erinnerte.
»Irgendwo schlägt das Herz dieses
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