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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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hatte dort an der Wand eine alte Laute gefunden, eine der Lauten, die nur drei Saiten aufweisen und wie man sie nur auf der Seideninsel kennt. Er versuchte, ihr Töne zu entlocken, aber er spielte ziemlich leise, nicht viel lauter als der Regen, der auf das Moosdach fiel.
    »Auf den Märkten in Hort«, sagte Sperber, »verkaufen sie Stoffe und preisen sie als Seide aus Lorbanery an. Manche sind tatsächlich Seide, aber sie stammt nicht aus Lorbanery.«
    »Wir hatten vier oder fünf schlechte Jahre«, seufzte der Magere.
    »Fünf Jahre sind’s genau, am Brachmond hat’s angefangen«, sagte ein alter Mann; er sprach mit kauender Bewegung und mehr zu sich selbst, als zu den anderen. »Ja, ja, seit der alte Mildi gestorben ist, und der ist nun tot, und war lange nicht so alt wie ich. Am Brachmondabend, ja, ja, da ist er gestorben.«
    »Mangel treibt die Preise hoch«, sagte der Bürgermeister. »Für einen Ballen mittelfeiner Blauer kriegen wir jetzt soviel wie früher für drei.«
    »Wenn wir überhaupt was kriegen! Wo sind denn die Schiffe? Und das Blau ist nicht echt«, sagte der Magere, und es entstand ein halbstündiger Streit über die Beschaffenheit der Farben, die in der großen Arbeitshalle verwendet wurden.
    »Wer macht die Farben?« fragte Sperber und entfachte damit eine weitere Auseinandersetzung. Es stellte sich heraus, daß das Färben in den Händen einer Familie gelegen hatte, die sich tatsächlich Zauberer nannten, aber wenn sie es gewesen waren, so hatten sie ihre Kunst verlernt und verloren, und kein Mensch konnte sie wiederfinden, wie der Magere mit saurer Miene feststellte. Und alle, außer dem Bürgermeister, stimmten überein, daß das berühmte Blau von Lorbanery und das unvergleichliche Purpur, das ›Drachenfeuer‹, das die Königinnen von Havnor dereinst getragen hatten, nicht mehr das gleiche waren. Irgend etwas fehlte an den Farben. Vielleicht war der ganzjährige Regen daran schuld, oder die Farberde, oder der Färber. »Auf die Augen kommt’s an«, sagte der Magere. »Es gibt Leute, die ein echtes Azur nicht von blauem Dreck unterscheiden können«, und er blickte den Bürgermeister herausfordernd an. Doch der war nicht gewillt, den Streit fortzusetzen. Alle schwiegen wieder.
    Der dünne, saure Wein schien ihre Gemütsverfassung zu beeinflussen, die Gesichter blickten immer verdrossener drein. Nur das Rauschen des Regens zwischen den unzähligen Blättern der Bäume, die in den Gärten des Tales standen, das Flüstern des Meeres am Ende der Straße und das leise Klingen der Laute in der Dunkelheit des Hauses waren zu vernehmen.
    »Kann er singen, Ihr Junge mit dem Mädchengesicht?« fragte der Bürgermeister.
    »Aber sicher kann er singen. Arren! Stimm was an, mein Junge!«
    »Es gelingt mir nicht, die Laute aus dem Moll herauszulocken«, sagte Arren lächelnd aus dem Fenster. »Sie will weinen, die Laute. Was wünschen Sie zu hören?«
    »Was Neues«, brummte der Bürgermeister.
    Die Laute trillerte. Er hatte schon herausgefunden, wie sie zu spielen war. »Das ist vielleicht neu hier«, sagte er. Dann hob er an:
    Bei den weißen Meeresstraßen von Soléa,
    bei den tiefhängenden roten Zweigen,
    die ihre Blüten über mein
    gebeugtes Haupt neigen, schwer
    vom Kummer um den verlorenen Liebsten,
    bei dem roten Zweig und bei dem weißen Zweig,
    bei dem Schmerz, der nie versiegen wird,
    schwöre ich, Serriadh,
    ich, Morreds und meiner Mutter Sohn,
    daß ich auf ewig und immerdar
    des Unheils gedenken werde, das geschehen ist,
    auf ewig und immerdar.
    Niemand rührte sich: die verbitterten und die schlauen Gesichter, die abgearbeiteten Hände, die gebeugten Körper, alles war still. Sie saßen im warmen Regen, in der Dämmerung des Südens, und hörten das Lied, das wie der Schrei eines grauen Schwanes über der kalten See bei Éa in ihre Herzen drang, klagend und tieftraurig. Sie schwiegen noch lange, nachdem das Lied geendet hatte.
    »Das ist ein komischer Gesang«, meinte schließlich einer zögernd.
    Und ein anderer, überzeugt, daß die Insel Lorbanery den Nabel der Welt bedeutete, meinte: »Fremde Musik ist immer komisch – und trübselig dazu.«
    »Jetzt gebt ihr ein Lied zum Besten!« munterte sie Sperber auf. »Ich persönlich würde gern was Handfestes hören. Der Junge hier singt immer von alten Helden, die schon längst tot sind.«
    »Gut, ich sing’ euch was«, sagte der Mann, der zuletzt gesprochen hatte. Er war zunächst etwas verlegen, doch dann stimmte er ein munteres

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