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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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nicht. Ich will ihn sehen; mit meinen Augen, in dieser Welt will ich ihn sehen. Wenn ich – wenn ich sterben würde und den Weg, den Ort, nicht finden könnte? Die meisten Leute finden ihn nicht, die wissen nicht einmal, daß es ihn gibt. Nur manche haben die Macht. Aber es ist schwer, denn man muß seine Macht aufgeben, um dorthin zu gelangen … Keine Worte mehr, keine Namen. Es ist zu schwer, man kann es nicht im Geist tun. Und … wenn man … stirbt …, der Geist … der … stirbt auch.« Er stockte bei jedem Wort. Dann fuhr er fort: »Ich will wissen, ob ich zurückkommen kann. Ich will dorthin, auf die andere Seite des Lebens. Ich will leben, ich will sicher sein. Ich hasse … ich hasse dieses Wasser …«
    Der Färber krümmte sich zusammen, wie sich eine Spinne zusammenzieht, bevor sie herunterfällt, und zog den Kopf mit dem krausen roten Haar tief zwischen die Schultern – er konnte den Anblick des Wassers nicht ertragen.
    Arren vermied es von nun an nicht mehr, sich mit Sopli zu unterhalten. Jetzt wußte er, daß Sopli nicht nur seine Träume, sondern auch seine Furcht teilte, und daß er, wenn es zum Alleräußersten kommen sollte, einen Verbündeten gegen Sperber haben würde.
    Tagaus, tagein segelten sie gen Westen. In der Windstille und den unberechenbaren Brisen kamen sie nur langsam vorwärts, dorthin, wo Sopli sie leitete, wie Sperber vorgab. Doch Sopli leitete sie nicht, denn er, der überhaupt nichts vom Meer verstand, der noch nie zuvor eine Seekarte gesehen oder in einem Boot gesessen hatte, war verzehrt von seiner tödlichen Angst vor dem Wasser. Der Magier leitete sie, und er führte sie mit Absicht ins Unheil. Das war Arren inzwischen ganz klar, und er wußte auch, warum er das tat. Der Erzmagier hatte erkannt, daß sie und noch andere das ewige Leben suchten, daß es ihnen versprochen war, sie davon angezogen wurden und es vielleicht finden würden. Und in seinem Stolz, in seinem maßlosen Stolz als Erzmagier fürchtete er, sie könnten es möglicherweise erlangen; er beneidete und fürchtete sie, denn er konnte nicht zulassen, daß es Menschen gab, die über ihn hinauswuchsen. Daher war er entschlossen, hinaus auf die hohe See zu segeln, fern von allen Küsten, bis sie völlig verloren waren und nie mehr ihren Weg zurück zur bewohnten Welt fänden; dort würden sie den Tod des Verdurstens erleiden. Er selbst war bereit zu sterben, nur um zu verhindern, daß sie das ewige Leben erlangten.
    Doch ab und zu sprach Sperber zu ihm über irgendeine Nebensächlichkeit, die sich auf das Segeln oder das Boot bezog, schwamm mit ihm im warmen Wasser oder wünschte ihm eine gute Nacht unter den hell-leuchtenden Sternen, und in diesen Augenblicken kamen dem Jungen all diese Gedanken völlig unsinnig vor. Er blickte seinem Gefährten ins Gesicht, er sah seine harten, strengen, geduldigen Züge, und er dachte: »Das ist mein Gebieter und Freund.« Und es kam ihm unfaßbar vor, daß er an ihm hatte zweifeln können. Doch kurz danach stiegen wiederum Zweifel in ihm auf, und er und Sopli warfen sich warnende Blicke zu, mit denen sie sich gegen den gemeinsamen Feind verbündeten.
    Die Sonne schien jeden Tag gleichbleibend heiß, doch fehlte es ihr an Glanz. Ihr Licht lag matt auf den langsam dahinrollenden Wellen des Meeres. Wasser und Himmel wirkten gleichmäßig blau, ohne Unterschiede, ohne Schattierungen. Die Brisen erhoben sich kurz und starben dann wieder ab, und sie wandten das Segel, um den Wind aufzufangen und bewegten sich langsam vorwärts, keinem Ufer, keinem Land entgegen, sondern dorthin, wo es kein Ende gab.
    Ein Nachmittag kam, an dem sie in einem stetigen achterlichen Wind segelten. Als der Sonnenuntergang nahe war, deutete Sperber nach oben und sagte: »Schau!« Hoch über dem Mast flog eine Schar Wildgänse in einer krummen Linie, die wie eine schwarze Rune aussah, über den hellen Himmel. Die Gänse flogen nach Westen: die Weitblick , ihnen folgend, steuerte am nächsten Tag Land an; es schien eine große Insel zu sein.
    »Das ist es«, sagte Sopli. »Dieses Land, dort müssen wir hingehen.«
    »Der Ort, den du suchst, ist er dort?«
    »Ja. Wir müssen landen. Weiter können wir nicht fahren.«
    »Das muß die Insel Obehol sein. Weiter westlich ist eine andere Insel, Wellogy. Und es gibt noch mehr Inseln, weiter draußen im Westbereich. Bist du sicher, Sopli?«
    Der Färber von Lorbanery wurde zornig, und der verstörte Ausdruck kehrte in seine Augen zurück, aber Arren fand,

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