Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
dringender, immer notwendiger. Er fing an zu rennen. Doch gerade dadurch verengten sich die Kreise immer mehr, und der Boden begann sich zu neigen. Er rannte in die immer unheimlicher werdende Dunkelheit hinein, immer schneller am Rande eines abgrundtiefen, runden Schachtes entlang, der wie ein riesiger Strudel alles in sich einzusaugen schien: und als er das wahrnahm, stolperte er und fiel zu Boden.
»Was ist los, Arren?«
Sperber sprach vom Heck des Schiffes her. Eine fahlgraue Morgendämmerung hielt See und Himmel in ihrem Bann.
»Nichts.«
»Ein Traum?«
»Nichts.«
Arren fror; sein rechter Arm, der unter ihm eingezwängt gelegen hatte, schmerzte. Er schloß die Augen vor dem immer heller werdenden Licht und dachte: »Er spielt mal auf das und mal auf jenes an; nie sagt er mir deutlich, wo wir nun eigentlich hingehen oder warum ich da hingehen soll. Und jetzt schleppt er noch diesen Wahnsinnigen mit. Es ist verrückt, ihm zu folgen, also wer ist der Verrücktere, ich oder der Irre? Die zwei verstehn sich vielleicht ganz gut, die Zauberer sind ja jetzt die Wahnsinnigen, hat dieser Sopli gesagt. Ich könnte jetzt daheim in Berila sein, in meinem Zimmer mit den geschnitzten Wänden und den roten Teppichen auf dem Boden; im Kamin würde ein Feuer lodern, und ich würde aufwachen und dann mit meinem Vater auf die Falkenjagd gehen. Warum bin ich mit ihm gegangen? Warum hat er mich mitgenommen? Weil es mein vorbestimmter Weg sei, hat er gesagt. Aber das ist nichts als Zauberergeschwätz, die machen ja große Worte um nichts und wieder nichts. Und die Bedeutung dieser Worte wechselt ständig. Wenn mir ein Weg vorherbestimmt ist, dann der nach Hause, nicht in die Außenbereiche. Ich habe daheim Pflichten zu erfüllen, und hier gehe ich ihnen aus dem Weg. Wenn er wirklich glaubt, daß irgendwo ein Feind der Zauberkunst lauert, warum ist er dann nur allein mit mir ausgezogen. Er hätte einen anderen Magier als Beistand mitnehmen können – Hunderte von ihnen; er hätte eine ganze Heerschar, eine ganze Flotte rüsten sollen. Bestünde wirklich so große Gefahr, wie könnte er dann nur einen alten Mann mit einem Jüngling in einem Boot dagegen ausziehen lassen? Es war reiner Wahnsinn. Er war selbst verrückt. Es ist so, wie er gesagt hat: er selbst sucht den Tod. Er sucht den Tod, und er will mich mitnehmen. Aber ich bin nicht verrückt und nicht alt; ich will noch nicht sterben; ich werde nicht mit ihm gehen.«
Er stützte sich auf den Ellbogen und schaute nach vorne. Der Mond, der bei der Ausfahrt aus der Bucht von Sosara vor ihnen aufgegangen war, stand wieder an seinem Ausgangsort, doch jetzt wurde er immer blasser. Hinter ihm begann, fahl und matt, ein neuer Tag. Keine Wolken waren zu sehen, der ganze Himmel schien aus einer bleichen Decke zu bestehen. Als der Tag voll angebrochen war, wurde es heiß, aber die Sonne blieb verhüllt, sie schien ohne Glanz.
Den ganzen Tag lang segelten sie an der Küste von Lorbanery entlang, die sich niedrig, aber begrünt rechter Hand hinzog. Eine leichte Brise blies vom Land her und wölbte ihr Segel. Gegen Abend kamen sie an einem langen, letzten Vorgebirge vorbei; die Brise legte sich. Sperber sprach einen magischen Wind in das Segel, und wie sich ein Falke vom Arm des Jägers erhebt, so richtete sich die Weitblick auf und flog, die Seideninsel rasch hinter sich lassend, über die See.
Sopli, der Färber, lag schon den ganzen Tag am Mast zusammengekauert. Er hatte offensichtlich Angst vor dem Boot und dem Meer; er war seekrank und bot ein Bild des Jammers. Jetzt sprach er, mühsam und heiser: »Fahren wir nach Westen?«
Die Abendsonne schien ihm voll ins Gesicht, doch Sperber, der auch bei seinen dümmsten Fragen nicht die Geduld verlor, nickte.
»Nach Obehol?«
»Liegt Obehol westlich von hier?«
»Ganz weit westlich. Vielleicht ist dort der Ort.«
»Wie sieht er aus, der Ort?«
»Woher soll ich das wissen? Wie konnte ich ihn denn sehen? Er ist nicht auf Lorbanery! Ich hab’ jahrelang danach gesucht, vier, fünf Jahre, in der Dunkelheit, in der Nacht, meine Augen waren fest zu, und immer hat er gerufen ›Komm! Komm!‹, aber ich konnte nicht. Ich bin kein großer Zauberer, der sich dort, wo es immer dunkel ist, auskennt. Aber es gibt einen Ort, wo Licht ist, wo sogar die Sonne scheint. Und Mildi und meine Mutter haben das nicht verstanden. Die haben immer nur dort, wo es dunkel ist, gesucht. Dann ist der alte Mildi gestorben, und meine Mutter wurde verrückt. Sie
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