Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
damals noch ein Lausejunge und wohnte in einem der Bergdörfer. Er gab mir meinen Namen und damit auch mein Leben.« Das Bild änderte sich, und der Betrachter sah jetzt – wie ein Vogel, der zwischen den Zweigen eines Baumes sitzend hinausspäht – eine sonnige, steile Berghalde unterhalb eines schneebedeckten Felsgrates liegen, durchwunden von einem steilen Pfad, der hinunter in ein tiefgrünes, vom goldenen Sonnenlicht durchbrochenes Dunkel führte. »Nichts kommt dem Schweigen dieser Wälder gleich«, sagte Sperber, und in seiner Stimme lag Sehnsucht.
    Das Bild wurde schwächer, bald war es verschwunden; nur die grelle Scheibe der Mittagssonne starrte ihnen aus dem Wasser entgegen.
    »Ja, ja«, sagte Sperber, und sein Blick ruhte nachdenklich und ein wenig spöttisch auf Arren, »wenn ich jemals wieder dorthin zurückkehren soll, selbst du könntest mir dann nicht folgen.« Vor ihnen lag Land. Niedrig und blau erhob es sich über dem Horizont. Im Dunst des Nachmittags glich es einer Nebelbank. »Ist das Selidor?« frage Arren, und sein Herz begann, heftig zu pochen, doch der Magier antwortete: »Ich vermute, es ist Obb oder Jessetsch. Wir haben noch nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt, mein Junge!«
    Es war Nacht, als sie durch die Meeresstraßen zwischen den beiden Inseln segelten. Sie sahen keine Lichter, doch starker Brandgeruch lag in der Luft, und der Rauch war stellenweise so dick, daß ihre Lungen beim Atmen zu schmerzen begannen. Als es hell wurde und sie zurückblickten, sahen sie, daß die östliche Insel, Jessetsch, von der Küste landeinwärts, so weit der Blick reichte, schwarz und verbrannt aussah, ein blauer, schwerer Dunst lag darüber.
    »Man hat die Ernte verbrannt«, sagte Arren.
    »Stimmt. Und die Dörfer. Den Rauch habe ich schon einmal gerochen.«
    »Sind das hier Barbaren im Westen?«
    Sperber schüttelte verneinend seinen Kopf. »Bauern und Städter.«
    Arren starrte auf das schwarze, zerstörte Land, auf die verkohlten Stümpfe der Obstbäume, die sich gegen den Himmel reckten, und sein Gesicht wurde hart. »Was haben ihnen denn die Bäume getan?« sagte er. »Muß man seinen Haß am Gras auslassen? Menschen, die das Land verwüsten, weil sie sich untereinander streiten, sind Barbaren.«
    »Es fehlt ihnen an Führung«, sagte Sperber, »es fehlt ihnen der König; und alle mächtigen und zauberkundigen Menschen haben sich abgesondert und in sich selbst zurückgezogen; sie suchen die Pforte, die aus dem Tod zurückführt. So ist es im Süden, und so wird es vermutlich auch hier sein.«
    »Und ein Mann kann das bewerkstelligen – der, von dem der Drache sprach? Das scheint doch kaum möglich.«
    »Warum nicht? Wenn es einen König aller Inseln gäbe, wäre das ja auch nur ein Mann, und er würde herrschen. Ein Mann kann alleine regieren, und genauso leicht kann ein Mann auch zerstören: sei er ein König oder Antikönig.«
    In seiner Stimme lag wieder dieser leicht spöttische, herausfordernde Ton, der Arrens Blut aufwallen ließ.
    »Ein König regiert durch Diener – Soldaten, Beamte, Gesandte. Wo sind denn die Diener dieses … dieses Antikönigs?«
    »In unserem Herzen, mein Junge, in unserem Herzen! Der Verräter, das ist das eigene Ich, das schreit: Ich will leben, laßt die Welt verbrennen, solange ich nur leben kann! Dieses infame kleine Stimmchen, das im Dunkel unserer Seele nistet wie der Wurm im Apfel. Und es spricht zu jedem von uns. Doch nur wenige können es verstehen: die Zauberer und Hexenmeister, die Sänger, Künstler und Helden, diejenigen, die versuchen, sich selbst zu finden und zu bejahen, die versuchen, sich zu verwirklichen. Und das ist etwas ganz Großes und Seltenes. Und sich in alle Ewigkeit verwirklichen zu können, ist das denn nicht noch viel besser?«
    Arren blickte Sperber offen in die Augen. »Ihrer Ansicht nach ist es nicht besser. Aber sagen Sie mir, warum. Als ich diese Reise begann, war ich ein Kind, das nichts vom Tod wußte. Sie glauben, ich sei noch immer eines, aber ich habe inzwischen dazugelernt, nicht viel vielleicht, aber doch etwas. Ich habe gelernt, daß es einen Tod gibt und ich sterben muß. Aber ich habe nicht gelernt, daß ich dieses Wissen willkommen heißen muß, also Ihren oder meinen Tod begrüßen soll. Wenn ich das Leben liebe, ist es dann nicht natürlich, daß ich seinem Ende mit Widerwillen entgegensehe? Warum soll ich mir keine Unsterblichkeit wünschen?«
    Arrens Fechtmeister in Berila war ungefähr sechzig Jahre

Weitere Kostenlose Bücher