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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Meilen lagen zwischen den auf keiner Karte verzeichneten Meeresströmungen des Floßvolkes und der Insel Selidor, der westlichsten aller Inseln der Erdsee. Ein Tag nach dem andern erhob sich strahlend am Horizont und versank im rotglühenden Westen, und das Boot flog unter der goldenen Sonnenbahn oder den silberglänzenden Sternen unentwegt nach Norden, allein auf dem weiten Meer.
    Manchmal ballten sich die Gewitterwolken des Hochsommers in der Ferne zusammen und warfen ihre dunkelvioletten Schatten gegen den Horizont; dann sah Arren zu, wie sich der Magier erhob und ihnen mit Hand und Stimme gebot, zu ihnen hinzutreiben und ihren Regen über das Boot auszuschütten. Blitze schossen aus den Wolken hervor, der Donner krachte, doch der Magier stand mit ausgestreckter Hand, bis der Regen auf sie niederprasselte, ihre aufgestellten Gefäße ebenso wie das Boot selbst mit Wasser füllte und die Wellen des Meeres unter seinem Anprall flachdrückte. Er lachte und warf Arren einen Blick des Einverständnisses zu, und auch Arren mußte lachen, denn an Nahrung litten sie keinen Mangel – wenngleich auch keinen Überfluß –, doch an Wasser fehlte es ihnen. Und das Gewitter, das sich in seinem gloriosen Zorn über ihnen entlud, bot einen überwältigenden Anblick.
    Arren war überrascht über die Macht, die sein Gefährte nun so bedenkenlos verschwendete, und einmal fragte er ihn: »Warum haben Sie keine Zauber gewirkt, als wir unsere Reise begannen?«
    »Das A und O allen Unterrichts auf Rok gipfelt in dem Gebot: Wirke nur, was nötig ist. Nicht mehr.«
    »Der Unterricht dazwischen besteht dann wohl darin, unterscheiden zu lernen, was denn nötig ist.«
    »Stimmt. Man muß immer das Gleichgewicht im Auge behalten, sich von ihm leiten lassen. Doch wenn das Gleichgewicht selbst gestört ist – dann zieht man anderes in Erwägung: vor allem Eile.«
    »Wie kommt es, daß alle Zauberer im Süden und jetzt bestimmt auch anderswo – selbst die Sänger auf den Flößen – ihre Macht verloren, während Sie ihre Macht behielten?«
    »Weil ich meine Kunst als Kunst allein schätze und keinen Gewinn darin suche«, antwortete Sperber.
    Und nach einer Weile fügte er, weniger ernst, hinzu: »Und wenn ich sie schon bald hergeben muß, dann will ich sie wenigstens ausnützen, solange ich sie noch beherrsche.«
    Sein Wesen war überhaupt ganz anders, als Arren es bisher erlebt hatte. Eine gewisse Sorglosigkeit, eine kindliche Freude an der eigenen Geschicklichkeit, an seiner Kunst, hatte Besitz von ihm ergriffen, etwas, das Arren nie hinter seinem ernsten Wesen vermutet hätte. Arren wußte nicht, daß der wahre Magier mit Herz und Seele an seiner Kunst hängt und sich an ihrer Wirkmacht erfreut. Sperbers Verwandlung in Hort, die Arren so erschreckt hatte, war für ihn selbst ein Spiel gewesen. Und für einen, der nicht nur Gesicht und Stimme, sondern seine ganze Gestalt, sein Wesen in etwas anderes verwandeln konnte, wenn er wollte – einen Fisch, einen Falken, einen Delphin – für so einen war diese Verwandlung nicht mehr als eine Kinderei. Einmal sagte er: »Schau her, Arren! Ich zeig dir Gont.« Und er deutete auf die Oberfläche eines randvollen Wasserfasses, das er geöffnet hatte. Viele Zauberer konnten Bilder auf Wasserspiegeln erscheinen lassen. Es war nichts Besonderes, was er da vollbrachte: Man sah einen hohen Gipfel, von Wolken umgeben, der sich aus dem grauen Meer erhob. Das Bild änderte sich, und Arren sah einen steilen Felsen, der auf der Berginsel in die Höhe ragte. Er sah ihn aus der Vogelschau, der einer Möwe oder eines Falken, die vom Wind der Küste getragen auf diesen Felsen herabblickten, gut zehntausend Fuß hoch über der Brandung. Und ganz oben, auf einem kleinen Felsplateau, sah man ein kleines Haus. »Das ist Re Albi«, sagte Sperber, »dort wohnt mein Meister Ogion, der vor langer Zeit das Erdbeben gestillt hat. Er hält ein paar Ziegen, sammelt Kräuter und schweigt. Ob er wohl noch in den Bergen wandert? Er ist jetzt schon sehr alt. Aber ich würde es wissen, sicher würde ich es wissen, wenn Ogion gestorben wäre, selbst jetzt …« Seine Stimme klang unsicher, und einen Augenblick lang wurde das Bild undeutlich und verschwamm, und es sah aus, als ob der Fels zusammenkrachen würde. Dann wurde es wieder klar, seine Stimme hatte sich gefangen. »Im Spätsommer und Herbst begibt er sich gewöhnlich ganz allein auf eine Wanderung in die Berge. Auf einer dieser Wanderungen kam er einmal zu mir, ich war

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