Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
mit Blut getränkten Strand. Über Arren und Sperber spannte sich ein blauer Himmel, in dem die Mittagssonne hoch stand.
    Es lebte zu dieser Zeit kein Mensch, außer dem Erzmagier, der die Dracheninseln angesteuert und besichtigt hatte. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte er sie mit seinem Boot von Osten nach Westen und wieder zurück durchmessen. Für einen Seemann waren sie beides: ein Wunder und ein Alptraum. Die Gewässer dort waren ein Labyrinth blauer Meerengen und türkisfarbener Untiefen, von Felsen und Riffen unterbrochen, und durch dieses Gewirr bahnten sie sich jetzt mit allergrößter Vorsicht ihren Weg, Hand und Worte zu Hilfe nehmend. Manche Felsen waren flach und verschwanden oft zur Gänze unter den anbrandenden Wellen; sie waren mit Seeanemonen, Muscheln und sich schlängelnden Farnen bedeckt und sahen wie teils erstarrte, teils sich windende Wasserungeheuer aus. Manche ragten freilich hoch aus den Wogen empor, spitze Türme, steile Felsen, die an Bögen oder Halbbögen, gemeißelte Säulen, phantastische Tiere, Eberrücken oder Schlangenköpfe erinnerten; alle waren riesig und unförmig, als stecke ein dumpfes, nur halb erwachtes Leben im Fels. Die See schlug dagegen, rhythmisch wie Atemzüge, und sie waren naß und glänzten unter der hellen, harten Gischt. In einem dieser Felsen konnte man, von Süden kommend, die gebeugten Schultern und das schwere, edel geformte Haupt eines Mannes erkennen, der sich gedankenverloren nach vorne neigte. Nachdem das Boot vorbeigesegelt war und weiter gegen Norden steuerte, war er verschwunden, nur eine Höhle, die sich in den riesigen Felsen hinein erstreckte, war sichtbar, in der das Wasser sich regelmäßig mit hohlem Klatschen hob und senkte. Und in diesem Geräusch schien ein Wort, eine Silbe, enthalten zu sein. Als sie weitersegelten, verloren sich die verstümmelnden Echos, und die Silbe wurde klar und vernehmbar, so daß Arren fragte: »Hat die Höhle eine Stimme?«
    »Die Stimme des Meeres.«
    »Aber sie spricht ein Wort.«
    Sperber horchte; er warf einen Blick auf Arren, dann zurück zur Höhle: »Was hörst du?«
    »Es klingt wie Ahm.«
    »In der Ursprache heißt das ›Anfang‹ oder ›vor langer Zeit‹. Ich höre Ohb, und das kann heißen ›das Ende‹. – Paß auf!« Er unterbrach sich, gerade als Arren warnend rufen wollte: »Untiefe!« Obgleich die Weitblick sich geschickt wie eine Katze zwischen den gefährlichen Stellen hindurchwand, waren sie eine Weile vollauf mit dem Steuern beschäftigt. Die Höhle, in der gleichmäßig und unaufhörlich das rätselhafte Wort donnerte, blieb hinter ihnen zurück.
    Das Wasser wurde tiefer, und sie verließen die Fantasmagorie der Felsen. Vor ihnen lag eine Insel, die wie ein Turm über das Wasser ragte. Ihre steilen Flanken waren schwarz und schienen aus zahlreichen, dicht beisammen stehenden Säulen oder Zylindern zu bestehen, die spiegelblank und oben glatt abgeschnitten waren. Sie ragten mehr als dreihundert Fuß hoch aus dem Wasser. »Das ist Kalessins Hort«, sagte der Magier. »Das haben mir die Drachen erzählt, als ich vor vielen Jahren hier war.«
    »Wer ist Kalessin?«
    »Der Älteste …«
    »Hat er diese Insel so gebaut?«
    »Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt gebaut wurde, und auch nicht, wie alt er ist. Ich sage zwar ›er‹, aber selbst das weiß ich nicht … In Kalessins Augen ist Orm Embar noch ein Jährling. Und du und ich, wir sind nichts als Eintagsfliegen.« Er blickte prüfend auf die drohenden Palisaden, doch Arren schaute beklommen nach oben. Er stellte sich vor, wie ein Drache so schnell wie ein Schatten von diesem hohen, schwarzen Rand herunter auf sie zustoßen konnte. Doch kein Drache zeigte sich. Sie bewegten sich langsam durch das stille Wasser im Windschutz des Felsens und hörten nur das leise Raunen und Klatschen der beschatteten Wellen gegen die Säulen aus Basalt. Arren steuerte das Boot, und Sperber stand im Bug und spähte die Felsen entlang hinauf in den hellen Himmel, der sich vor ihnen auftat.
    Endlich glitten sie aus dem Schatten von Kalessins Hort hinaus in das helle Sonnenlicht des Spätnachmittags. Die Dracheninseln lagen hinter ihnen. Der Magier hob den Kopf wie ein Mensch, der endlich sieht, was er erwartet hat, und über die weite, lichtüberflutete Fläche, die sich vor ihnen erstreckte, kam auf goldenen Flügeln der Drache Orm Embar herangeschwebt.
    Arren hörte, wie Sperber ihm zurief: »Aro Kalessin?« Es war nicht schwer zu erraten,

Weitere Kostenlose Bücher