Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
das außerhalb der Natur steht, das unnatürlich ist. Ihre Furcht verleiht seiner Magie mehr Kraft über sie, und er nahm ihnen die Ur-, die Schöpfungssprache weg und überließ sie ihren wilden Trieben. Sie fressen sich gegenseitig auf, nehmen sich das Leben, indem sie sich ins Meer stürzen – ein abscheulicher Tod für die Feuerechsen, die Tiere des Windes und des Feuers. Dann habe ich gefragt: ›Und wo ist Kalessin, dein Herr?‹ Und darauf hat er nur gesagt: ›Im Westen‹, und das kann bedeuten, daß Kalessin in andere Länder geflogen ist, die weiter entfernt liegen, als je ein Schiff gesegelt ist, wenn man den Drachen glauben kann; es kann aber auch etwas anderes bedeuten.
Dann hörte ich auf, Fragen zu stellen, und er fragte mich: ›Ich flog über Kaltuel, als ich vom Norden zurückkehrte und über die Tore Torins. Auf Kaltuel sah ich, wie Dorfbewohner ein Kind auf einem Altar opferten, und auf Ingat sah ich, wie ein Zauberer von den Bürgern der Stadt gesteinigt wurde. Werden sie das Kind verzehren, was meinst du, Ged? Wird der Zauberer vom Tode zurückkehren und Steine auf die Städter werfen?‹ Ich dachte zuerst, daß er mich verspotte, doch dann merkte ich, daß es ihm ernst war. Er fuhr fort: ›Alles ist sinnlos geworden. Die Welt hat einen Sprung bekommen, die See rinnt davon, das Licht entflieht. Wir bleiben zurück im trockenen Land. Es wird keine Sprache, keinen Tod mehr geben.‹ Und dann verstand ich endlich, was er mir zu sagen hatte.«
Arren verstand es nicht und war darüber hinaus tief beunruhigt. Denn Sperber, als er die Worte des Drachen wiederholte, hatte seinen wahren Namen genannt. Dies rief in Arren die unbehagliche Erinnerung an die Frau auf Lorbanery wach, die aufgeschrien hatte: »Mein Name ist Akaren!« Wenn die Zauberkräfte, wenn die Musik, die Sprache und das Vertrauen schwächer wurden und langsam abstarben, wenn diese blindwütige Furcht sie überkam, die von den Drachen Besitz ergriffen hatte, und sie dazu trieb, sich gegenseitig zu zerstören, wenn das eintrat, konnte sein Gebieter dann noch widerstehen? War er stark genug dazu?
Er sah nicht stark aus, wie er so dasaß, vornübergebeugt über sein Mahl aus Brot und geräuchertem Fisch, mit ergrautem, vom Feuer angesengtem Haar, mit seinen ausdrucksvollen, schmalen Händen und seinem müden Gesicht.
Doch der Drache hatte ihn gefürchtet.
»Was liegt dir auf dem Herzen, Junge?«
Es gab keinen Ausweg. Er mußte die Wahrheit sagen.
»Mein Gebieter«, sagte er, »Sie haben Ihren wahren Namen ausgesprochen.«
»O ja, stimmt. Ich habe vergessen, daß ich das nicht früher getan habe. Du mußt meinen wahren Namen wissen, wenn wir dorthin kommen, wo wir hingehen müssen.« Er blickte, noch immer kauend, auf und sah Arren an. »Hast du geglaubt, daß ich senil geworden bin, herumlaufe und meinen Namen vor mich hinschwätze, wie es alte, tattrige Männer tun, die keine Scham und Vernunft mehr kenne? Noch bin ich nicht soweit, mein Junge!«
»Nein«, antwortete Arren, so verwirrt, daß er nichts weiter hinzufügen konnte. Er war erschöpft, der Tag war lang gewesen und voll von Drachen. Und vor ihnen breitete sich die Dunkelheit aus.
»Arren«, sagte der Magier, »… nein, Lebannen: dort wo wir hingehen, gibt es kein Versteck. Dort trägt alles seinen wahren Namen.«
»Den Toten kann man nicht mehr weh tun«, sagte Arren besorgt.
»Nicht unter den Toten allein werden Menschen bei ihrem wahren Namen gerufen. Die, die am tiefsten getroffen werden können, die am verwundbarsten sind, die Liebe geben und sie nicht zurückgenommen haben, die nennen sich auch bei ihren wahren Namen; all die, die treue Herzen haben, die Liebe schenken … Du bist ganz erschöpft, Junge. Leg dich hin und schlafe! Jetzt gibt es nichts mehr zu tun, nur der Kurs muß die ganze Nacht eingehalten werden. Und morgen früh werden wir die letzte Insel der Welt sehen.«
In seiner Stimme lag wohltuende Wärme. Arren rollte sich im Bug zusammen, und der Schlaf überkam ihn sofort. Er hörte noch, wie der Magier einen leisen, fast flüsternden Gesang anstimmte, nicht in Hardisch, sondern in der Ursprache, und als er endlich verstand, was die Worte bedeuteten, gerade die Schwelle des Verstehens betrat, schlief er ein.
Der Magier verstaute das Brot und den Fisch, sah nach dem Segel, überprüfte das Boot. Dann nahm er die Segelleine in die Hand und setzte sich auf die hintere Ruderbank. Er rief einen kräftigen magischen Wind herbei, der das Segel prall
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