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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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füllte, und die Weitblick flog pfeilschnell über das Meer.
    Er blickte auf Arren. Das Licht der Abendsonne lag rotgolden auf dem Gesicht des schlafenden Jünglings. Das dichte Haar war vom Wind zerzaust. Der weiche, unbeschwerte, etwas hochmütige Ausdruck im Gesicht des Jungen, der vor ein paar Monaten im Brunnenhof des Großhauses vor dem Erzmagier gesessen hatte, war verschwunden; das Gesicht vor ihm war schmaler, härter und viel ausdrucksvoller geworden. Aber es war nicht minder schön.
    »Ich hätte keinen gefunden, der mir auf meinen Weg gefolgt wäre«, sprach der Erzmagier Ged laut zu dem schlafenden Jungen oder in den leeren Wind hinein. »Keinen außer dir. Und du mußt deinen eigenen Weg gehen, nicht den meinen. Doch dein Königtum, das wird man zum Teil mir verdanken. Denn ich erkannte dich als erster, ich erkannte dich! Und man wird mich später für diese Tat mehr rühmen als für jede andere, die ich mit Hilfe meiner magischen Kräfte vollbracht habe – wenn es ein Später geben wird. Denn zuerst müssen wir dorthin gehen, wo sich das Gleichgewicht der Welt die Waage hält, auf dem Zünglein selbst müssen wir stehen. Und wenn ich stürze, so wirst auch du untergehen, und mit dir der Rest – eine Zeitlang, eine Zeitlang. Kein Dunkel dauert ewig. Und selbst dort, selbst dort scheinen Sterne … Doch, oh, wie gerne würde ich dich gekrönt in Havnor sehen, das Licht der Sonne hell auf dem Turm des Schwertes und auf dem Ring, den wir, Tenar und ich, aus den finsteren Gräbern von Atuan zurückbrachten, noch bevor du geboren wurdest.«
    Er lachte kurz auf, wandte sein Gesicht nach Norden und sprach zu sich selbst in der vertrauten Mundart: »Ein Ziegenhirte will den Erben Morreds auf seinen Thron erheben! Werde ich denn nie auslernen?«
    Nach einer Weile, während er mit dem Segeltau in der Hand dasaß und das pralle Segel betrachtete, das im untergehenden Sonnenlicht rötlich leuchtete, sprach er leise: »Weder nach Havnor noch nach Rok zieht es mich zurück. Es wird Zeit, daß ich mein Streben nach Macht aufgebe, daß ich die alten Spiele hinter mir lasse und weitergehe. Es wird Zeit, daß ich heimgehe. Ich würde Tenar wiedersehen, und Ogion, und noch mit ihm reden können, bevor er stirbt, dort im Haus auf dem Felsen von Re Albi. Ich sehne mich danach, wieder auf dem Berg zu wandern, in den Wäldern auf dem Berge Gont, im Herbst, wenn die Blätter bunt sind. Kein Königreich kommt diesen Wäldern gleich. Es wird Zeit, daß ich dorthin zurückkehre, schweigend und allein. Und vielleicht werde ich dort das lernen, was mich keine Tat, keine Kunst und keine Macht lehren konnte, das, was ich nie gelernt habe.«
    Im Westen glühte es noch einmal auf in einer letzten, lodernden, wildschönen Pracht. Das Meer lag dunkelrot vor ihm, das Segel über ihm war so rot wie Blut. Dann kam auf leisen Sohlen die Nacht. Und die ganze Nacht hindurch schlief der Jüngling, während der Mann wachte und aufmerksam nach vorne ins Dunkel spähte. Kein Stern erschien am Himmel.

Selidor
    ALS ARREN FRÜH AM MORGEN AUFWACHTE , erblickte er im Westen die blaue Küste Selidors, die lang und flachgestreckt in der Ferne vor ihnen lag.
    Im großen Saal zu Berila hingen alte Karten, die von der Zeit herrührten, als es noch Könige gab und Handelsschiffe und Forschungsexpeditionen von den Innenländern hinaus in die äußersten Bereiche segelten. Ein großes Mosaik, das sich über zwei Wände erstreckte und eine Karte des Ostens wie des Westens darstellte, zierte den Thronsaal. Die Insel Enlad, in Grau und Gold ausgelegt, befand sich genau über dem Thron. Die Karte, die er so oft in seiner Jugend betrachtet hatte, breitete sich jetzt vor seinem geistigen Auge aus. Im Norden von Enlad lag Osskil und westlich davon Ebosskil; im Süden lagen Semel und Paln. Diese vier stellten die Grenzen der Innenländer dar, dahinter erstreckte sich das helle Blaugrün einer leeren See, in die ab und zu ein winziger springender Delphin oder ein größerer Walfisch eingelassen war. Die See war leer bis zu der Ecke, wo die Nord- und Westwand zusammentrafen. Auf der westlichen Wand, gleich neben der Ecke, lagen Narveduen und dahinter drei kleinere Inseln. Dann sah man wieder nichts als leere See, die sich über die ganze Wand erstreckte, bis man auf diese letzte Insel, Selidor, stieß, und dahinter hörte alles auf.
    Die Umrisse dieser letzten Insel lagen in allen Einzelheiten vor seinem geistigen Auge: lang und leicht geschwungen umschloß sie eine

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