Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
aussieht.«
»Glauben Sie, daß er in der Nähe ist?«
»Ein Senden kann kein Wasser überqueren, folglich ist er auf Selidor. Doch Selidor ist eine große Insel, breiter als Rok und Gont und fast so lang wie Enlad. Es kann lange dauern, bis wir ihn finden.«
Daraufhin hob der Drache zu reden an. Ged hörte ihm zu und wandte sich dann zu Arren: »Das sind die Worte des Herrschers von Selidor: ›Ich bin in mein Land zurückgekehrt und werde es nicht verlassen. Ich werde den, der nach dem Ende allen Schöpfens strebt, finden und euch dorthin bringen, damit wir ihn gemeinsam vernichten können.‹ Und habe ich dir nicht gesagt, daß ein Drache das, was er sucht, immer finden wird?«
Daraufhin ließ sich Ged wie ein Gefolgsmann, der den Treueeid leistet, auf einem Knie vor Orm Embar nieder und dankte ihm in seiner Sprache. Der Drache schnaubte nahe, und sein Atem lag heiß auf Geds gesenktem Haupt.
Orm Embar schleppte seinen schweren, schuppigen Körper die Düne hinauf und schlug kraftvoll mit seinen Flügeln. Dann schoß er wie ein Pfeil davon.
Ged klopfte den Sand von seiner Kleidung und sagte zu Arren: »Jetzt hast du mich knien sehen. Und vielleicht wirst du mich noch einmal knien sehen, bevor alles vorüber ist.«
Arren fragte nicht, was er damit meinte. Während ihres langen Beisammenseins hatte er gelernt, daß der Magier immer einen guten Grund hatte, wenn er sich zurückhielt. Doch war es ihm, als läge ein böses Omen in den Worten.
Noch einmal kletterten sie über die Düne zurück zum Strand, um nachzuschauen, ob das Boot hoch genug am Ufer lag, außerhalb der Reichweite von Sturm und Flut. Sie nahmen ihre warmen Umhänge für die kalten Nächte und allen Proviant, der ihnen verblieben war. Ged blieb neben dem schmalen Bug stehen, der ihn so lange und so weit über fremde Meere getragen hatte; er legte seine Hand darauf, doch sagte er kein Wort, sprach keine magische Formel, um das Boot zu schützen. Dann schlugen sie einen Weg ins Landesinnere ein, auf die Hügel in der Ferne zu.
Sie wanderten den ganzen Tag hindurch, und gegen Abend schlugen sie ihr Lager in der Nähe eines Baches auf, der hinuntereilte zu den mit Schilfrohr dicht bestandenen Seen und Sümpfen. Obwohl es Hochsommer war, blies ein scharfer, kalter Wind über die endlose, landlose Wasserfläche, die sich westlich der Insel erstreckte. Nebel verdeckte den Himmel, und keine Sterne gingen hinter den Hügeln auf, die nie ein Herdfeuer oder das Licht von Fenstern gesehen hatten.
Arren wachte in der Dunkelheit auf. Ihr kleines Feuer war erloschen, doch im Westen stand der Mond und warf ein graues, nebliges Licht übers Land. Auf den Hügeln jenseits des Baches stand eine Menschenmenge, still, unbeweglich, ihre Gesichter gegen Ged und Arren gewandt. Kein Licht des Mondes spiegelte sich in ihren Augen.
Arren wagte nicht zu sprechen, doch er legte seine Hand auf Geds Arm. Der Magier bewegte sich und setzte sich auf. »Was ist los?« fragte er. Er folgte Arrens Blick und sah die stummen Gestalten.
Sie trugen, ob Mann oder Frau, die gleichen dunklen Gewänder. Ihre Gesichter waren im ungewissen Licht nur undeutlich und verschwommen zu erkennen, doch kam es Arren vor, als seien unter denen, die ihm am nächsten standen, einige, die er kannte. Doch er konnte sich ihrer Namen nicht erinnern.
Ged stand auf. Der Umhang fiel von seinen Schultern. Sein Gesicht, sein Haar und sein Hemd schienen silberweiß, als ob das Licht des Mondes sich auf ihm gesammelt hätte. Er breitete die Arme zu einer weitausholenden Geste und sprach laut: »O ihr alle, die ihr gelebt habt, geht und seid frei! Ich breche die Bande, die euch halten: Anvassa mane harw pennodathe!«
Die Menschenmenge blieb noch einen Augenblick lang unbeweglich stehen. Dann wandte sie sich langsam um, ging in das graue Dunkel hinein und war verschwunden.
Ged ließ sich nieder. Er atmete auf. Er blickte Arren an und legte die Hand auf die Schulter des Jungen; sie fühlte sich warm und fest an. »Da gibt es nichts zu fürchten, Lebannen«, sagte er, und leicht die Achseln zuckend fügte er hinzu: »Das waren ja nur Tote.«
Arren nickte, aber seine Zähne klapperten, die Kälte war ihm bis ins Mark gedrungen. »Wie …«, begann er, aber Lippen und Kinn gehorchten seinem Willen nicht.
Ged verstand ihn. »Sie kamen auf seinen Befehl. Das ist es, was er ihnen verspricht: Leben. Und es mag sein, daß sie, seinem Befehl gehorchend, wieder erscheinen werden. Wenn er gebietet, müssen sie auf
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