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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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und die nie versiegende Quelle?«
    »Doch, mein Junge«, sagte Ged voll Liebe und voll Schmerz.
    Sie schritten schweigend weiter ihres Weges. Doch Arren sah die Welt jetzt mit den Augen seines Gefährten an, er sah die Pracht des Lebens, die sich um sie herum in diesem schweigenden, öden Land mit einer Zaubermacht, größer als jeder anderen, in jedem Halm windbewegten Grases, in jedem Schatten, jedem Stein offenbarte. Wie einer, bevor er auf Nimmerwiedersehen verreist, zum letztenmal einen geliebten Ort erschaut, ihn voll und ganz und deutlich vor sich liegen sieht, wie er ihn nie zuvor geschaut hat und nie mehr schauen wird.
    Zur Abendzeit erhoben sich dichtgedrängte Wolkenbänke im Westen, von den mächtigen Winden des Meeres getragen, feurig im Licht der Sonne, die rot unter dem Horizont versank. Als Arren in einem Flußtal Reisig für ihr abendliches Feuer sammelte, sah er, aufblickend, nur einige Meter weit entfernt einen Mann in diesem roten Licht stehen. Das Gesicht des Mannes war seltsam fremd, doch Arren erkannte ihn: es war Sopli, der tote Färber von Lorbanery.
    Hinter ihm erschienen andere, alle mit traurigen, starrenden Gesichtern. Sie schienen zu reden, doch Arren konnte ihre Worte nicht verstehen, er hörte nur ein Wimmern, das vom Westwind fortgetragen wurde. Manche näherten sich ihm langsam.
    Arren stand, ohne sich zu rühren und schaute sie an. Sein Blick ruhte auf Sopli. Dann wandte er ihnen den Rücken zu und bückte sich, um mehr Reisig aufzuheben, obgleich seine Hände zitterten. Er legte das Reisig zu seinem Bündel und hob noch einen Zweig auf, und noch einen. Dann erst richtete er sich auf und blickte zurück. Niemand war im Tal mehr zu sehen, nur das rote Licht lag noch auf dem Gras. Er kehrte zu Ged zurück und legte sein Bündel Reisig nieder, erwähnte jedoch nicht, was er gesehen hatte.
    Die ganze Nacht hindurch aus dem nebligen Dunkel dieses Landes, das keine lebendige Seele barg, hörte er, aus unruhigem Schlaf erwachend, das Wimmern der toten Seelen. Er nahm seinen ganzen Willen zusammen, um es nicht zu hören, und schlief wieder ein.
    Beide, Ged und er, erwachten spät, als die Sonne sich schon eine Handbreit über die Hügel erhoben hatte und durch den Nebel dringend das kalte Land mit ihrem Licht übergoß. Als sie ihr karges Morgenmahl zu sich nahmen, kam der Drache. Er kreiste über ihnen in der Luft, Feuer züngelte aus seinem Rachen, und Rauch und Funken flogen aus seinen Nüstern, seine Zähne schimmerten im frühen Licht wie Halme aus Elfenbein. Doch er sprach nicht, obgleich Ged ihm in seiner Sprache zurief: »Hast du ihn gefunden, Orm Embar?«
    Der Drache warf den Kopf zurück und krümmte seltsam seinen Rücken, während seine messerscharfen Klauen die Luft zerfetzten. Dann flog er eilends nach Westen davon und warf, während er flog, Blicke auf sie zurück.
    Ged packte seinen Stab und stampfte damit heftig auf den Boden. »Er kann nicht mehr sprechen!« sagte er. »Er kann nicht mehr sprechen! Die Worte des Schöpfens sind ihm genommen worden, er ist wie eine Schlange, wie ein zungenloser Wurm, seine Weisheit ist stumm. Doch er kann führen, und wir können folgen.« Sie schwangen ihre leichten Bündel auf die Schultern und schritten eilends über die Hügel gen Westen davon, der Richtung folgend, die Orm Embar eingeschlagen hatte.
    Ohne ihren Schritt verlangsamt zu haben, waren sie sechs oder mehr Meilen gegangen. Jetzt lag das Meer zu beiden Seiten, und sie gingen einen Bergrücken hinunter, der sie schließlich durch trockenes Schilfrohr, einem gewundenen Flußbett entlang an einen Strand führte, der die Farbe von Elfenbein hatte. Dies war die westlichste Landzunge und das Ende aller Länder.
    Orm Embar kauerte auf diesem elfenbeinernen Sand, den Kopf gesenkt wie eine wütende Katze, sein Atem ging in feurigen Stößen. Zwischen ihm und den langsamen, langgezogenen Brandungswellen stand etwas, das wie eine Hütte, eine Unterkunft aus weißgebleichtem Treibholz aussah. Doch an dieser Küste, der kein anderes Land gegenüberlag, gab es kein Treibholz. Als sie näher kamen, sah Arren, daß die klobigen Wände aus großen Knochen bestanden: aus Walfischgebein, dachte er zuerst, doch dann sah er die weißen messerscharfen Dreiecke und wußte, daß es die Gebeine eines Drachen waren.
    Sie näherten sich dem Ort. Das Sonnenlicht, das auf dem Meer lag, glitzerte durch die Fugen der Gebeine. Über dem Eingang lag ein gewaltiger Schenkelknochen, länger als ein

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