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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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er sagte, obwohl alles stimmte. »Du gestehst dir keine Zeit zu, Ged«, sagte sie. »Die Rückkehr vom Tod ist vermutlich eine lange Reise – sogar auf dem Rücken eines Drachen. Das braucht seine Zeit. Zeit und Ruhe, Schweigen, Stille. Du bist verletzt gewesen. Du wirst genesen.«
    Er schwieg lange. Sie glaubte, daß sie das Richtige gesagt und ihm Trost gespendet hatte. Aber er sprach dann doch.
    »So wie das Kind?«
    Das war ein so scharfes Messer, daß sie nicht spürte, wie es ihr in den Körper drang.
    »Ich weiß nicht«, fuhr er mit der gleichen leisen, trockenen Stimme fort, »warum du sie zu dir genommen hast, obwohl du wußtest, daß sie nicht geheilt werden kann. Obwohl du wußtest, welch ein Leben sie erwartet. Wahrscheinlich ist es ein Teil der Zeit, in der wir gelebt haben – einer dunklen Zeit, eines Zeitalters der Zerstörung, einer Endzeit. Wahrscheinlich nahmst du die Kleine so auf, wie ich mich meinem Feind stellte, weil du nichts anderes tun konntest. So müssen wir im neuen Zeitalter mit der Ausbeute unseres Sieges über das Böse weiterleben. Du mit deinem verbrannten Kind und ich mit überhaupt nichts.«
    Die Verzweiflung spricht ruhig, mit leiser Stimme.
    Tenar wandte sich um und betrachtete den Stab des Magiers im düsteren Winkel rechts neben der Tür, aber in ihm war kein Licht. Er war innen und außen dunkel. Durch die offene Tür sah man hoch und trüb zwei Sterne. Sie betrachtete sie. Sie wollte wissen, welche Sterne es waren, stand auf und tastete sich am Tisch vorbei zur Tür. Der Dunst war höher gestiegen, und es waren nicht viele Sterne sichtbar. Einer von denen, die sie von drinnen gesehen hatte, war der weiße Sommerstern, den sie in Atuan in ihrer eigenen Sprache Tehanu nannten. Den anderen kannte sie nicht. Sie wußte nicht, wie man Tehanu hier auf hardisch nannte und wie sein wahrer Name lautete, wie die Drachen ihn nannten. Sie wußte nur, wie ihre Mutter ihn genannt hätte, Tehanu, Tehanu. Tenar, Tenar …
    »Ged«, fragte sie von der Tür her, ohne sich umzudrehen, »wer hat dich aufgezogen, als du ein Kind warst?«
    Er stellte sich neben sie und betrachtete ebenfalls den dunstigen Horizont des Meers, die Sterne, die dunkle Masse des Bergs über ihnen.
    »Eigentlich niemand«, antwortete er. »Meine Mutter starb, als ich ein Säugling war. Ich hatte einige ältere Brüder. Ich erinnere mich nicht an sie. Mein Vater, der Schmied, war da. Und die Schwester meiner Mutter. Sie war die Hexe von Zehnellern.«
    »Tantchen Moor«, warf Tenar ein.
    »Jünger. Sie besaß etwas Macht.«
    »Wie hieß sie?«
    Er schwieg.
    »Ich kann mich nicht erinnern«, antwortete er langsam.
    Nach einer Weile sagte er: »Sie lehrte mich die Namen. Falke, Wanderfalke, Adler, Fischadler, Hühnerhabicht, Sperber …«
    »Wie nennst du diesen Stern? Den weißen hoch oben.«
    Er blickte zu ihm hinauf. »Das Herz des Schwans. In Zehnellern nannte man ihn den Pfeil.«
    Aber er nannte den Namen nicht in der Sprache des Erschaffens, auch nicht die wahren Namen von Habicht, Falke, Sperber, die die Hexe ihn gelehrt hatte.
    »Was ich dort drinnen gesagt habe – war falsch«, flüsterte er. »Ich sollte überhaupt nicht sprechen. Verzeih mir.«
    »Wenn du nicht sprechen willst, bleibt mir nichts anderes übrig, als dich zu verlassen.« Sie wandte sich ihm zu. »Warum denkst du nur an dich? Immer an dich? Geh für eine Weile hinaus«, befahl sie ihm zornig. »Ich möchte zu Bett gehen.«
    Er murmelte eine Entschuldigung und verließ das Haus; sie trat in die Nische, schlüpfte aus den Kleidern und ins Bett und verbarg das Gesicht in der süßen Wärme von Therrus seidigem Nacken.
    Obwohl du weißt, welch ein Leben sie erwartet …
    Ihr Zorn auf ihn, ihr dummes Abstreiten, daß er die Wahrheit ausgesprochen hatte, entsprangen der Enttäuschung. Obwohl Lerche immer wieder gesagt hatte, daß man nichts tun könne, hatte sie doch gehofft, daß Tenar die Verbrennungen heilen könne; und obwohl Tenar immer behauptet hatte, daß dies nicht einmal Ogion gelungen wäre, hatte sie gehofft, daß Ged Therru heilen könne – daß er die Hand auf die Narbe legen und daß das Gesicht ganz und wieder heil, das blinde Auge hell, die Krallenhand weich, das zerstörte Leben wiederhergestellt sein würden.
    Obwohl du weißt, welch ein Leben sie erwartet …
    Die abgewandten Gesichter, die Zeichen zur Abwehr des Bösen, das Entsetzen und die Neugierde, das krankhafte Mitleid und die hinterhältige Drohung, denn Leid zieht Leid

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