Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
dem Drachen, der hier zu ihr gekommen war?
Die Tür des Hauses stand wie immer offen, um Licht und Luft hineinzulassen. Sperber saß ohne Lampe oder Feuerschein auf einem niedrigen Schemel neben dem gefegten Herd. Er saß oft dort. Sie nahm an, daß dies während seiner kurzen Lehrzeit bei Ogion, als er als Junge hier gelebt hatte, sein Platz gewesen war. Als sie Ogions Schülerin war, war es an Wintertagen ihr Platz gewesen.
Als sie eintrat, sah er sie an, aber sein Blick war nicht auf die Tür gerichtet gewesen, sondern rechts neben sie, auf die dunkle Ecke hinter der Tür. Dort stand Ogions Stab, ein mannshoher Eichenstock, schwer, am Griff glattgescheuert. Therru hatte den Haselnußstekken und den Erlenstock danebengestellt, die Tenar zurechtgeschnitten hatte, als sie nach Re Albi gegangen waren.
Tenar dachte: Sein Stab, sein Zaubererstab aus Eibenholz, den ihm Ogion gegeben hat … Wo ist er? Und gleichzeitig: Warum habe ich bis jetzt nicht daran gedacht?
Im Haus war es dunkel und stickig. Sie war bedrückt. Sie hatte sich gewünscht, daß er bleiben und mit ihr reden würde, aber jetzt saß er hier, und sie hatte ihm nichts zu sagen, genausowenig wie er ihr.
»Ich habe mir gedacht«, begann sie schließlich und rückte die vier Teller auf der Anrichte aus Eichenholz zurecht, »daß es für mich Zeit ist, auf meinen Hof zurückzukehren.«
Er schwieg. Vielleicht nickte er, aber sie hatte ihm den Rücken zugekehrt.
Sie war plötzlich müde und wollte zu Bett gehen; aber er saß im Vorderteil des Hauses, und es war noch nicht ganz dunkel; sie konnte sich nicht vor ihm ausziehen. Die Scham machte sie zornig. Sie wollte ihn gerade bitten, für eine Weile hinauszugehen, als er sich räusperte und zögernd sprach.
»Die Bücher. Ogions Bücher. Die Runen und die beiden Sagenbücher. Willst du sie mitnehmen?«
»Mitnehmen?«
»Du warst seine letzte Schülerin.«
Sie trat zum Herd hinüber und setzte sich ihm gegenüber auf Ogions dreibeinigen Stuhl.
»Ich habe gelernt, die Runen des Hardischen zu schreiben, aber ich habe zweifellos das meiste davon vergessen. Er hat mir einige Worte der Drachensprache beigebracht. Einiges davon weiß ich noch. Aber sonst nichts. Ich wurde kein Meister, kein Zauberer. Ich heiratete, weißt du. Hätte Ogion seine Bücher der Weisheit der Frau eines Bauern hinterlassen?«
Nach einer Pause fragte er ausdruckslos: »Hat er sie jemandem hinterlassen?«
»Dir natürlich.«
Sperber schwieg.
»Du warst sein letzter Lehrling, sein Stolz und sein Freund. Er sprach es nie aus, aber sie gehören natürlich dir.«
»Was soll ich mit ihnen anfangen?«
Sie starrte ihn durch die Dämmerung an. Auf der anderen Seite des Raums schimmerte das westliche Fenster. Die mürrische, unbarmherzige, nichtserklärende Wut in seiner Stimme weckte ihren Zorn.
»Du, der Oberste Magier, fragst mich? Warum behandelst du mich, als wäre ich eine noch größere Törin, als ich bin, Ged?«
Er stand auf. Seine Stimme zitterte. »Merkst du denn nicht – kannst du denn nicht sehen – das ist alles vorbei – damit ist es aus!«
Sie starrte ihn an und versuchte, sein Gesicht zu erkennen.
»Ich besitze keine Macht, nichts. Ich gab alles, was ich hatte – gab es her. Um zu beenden … Damit … Es ist geschehen, ich bin damit fertig.«
Sie versuchte seine Worte abzulehnen, aber es gelang ihr nicht.
»Als würde man ein wenig Wasser, eine Tasse Wasser, in den Sand schütten«, sagte er. »In dem trockenen Land. Ich mußte es tun. Aber jetzt habe ich nichts zum Trinken. Und was machte es aus, welchen Unterschied machte es, macht es … eine Tasse Wasser für die ganze Wüste? Ist die Wüste verschwunden? – Horch! – So flüsterte mir etwas hinter der Tür zu: Horch, horch!
Als ich jung war, ging ich in das trockene Land. Ich traf ihn dort, ich wurde zu ihm, ich vermählte mich mit meinem Tod. Er gab mir Leben. Wasser, das Wasser des Lebens. Ich war ein Brunnen, eine Quelle, floß, gab. Aber dort fließen keine Quellen. Alles, was mir zum Schluß blieb, war eine Tasse Wasser, und die mußte ich in den Sand schütten, in das Bett des trockenen Flusses, in der Dunkelheit auf Felsen. Es ist fort. Es ist vorbei. Erledigt.«
Sie hatte von Ogion und von Ged genug erfahren, um zu wissen, von welchem Land er sprach und daß er zwar in Bildern sprach, daß diese aber nicht Masken der Wahrheit, sondern die Wahrheit selbst waren, wie sie ihm widerfahren war. Sie wußte auch, daß sie bestreiten mußte, was
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