Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
an … Und nie die Arme eines Mannes. Nie jemand, der sie an sich zöge. Nur Tenar. Oh, er hatte recht, das Kind hätte sterben sollen, sollte besser tot sein. Sie hätte sie in das trockene Land ziehen lassen sollen, sie, Lerche und Eppich, aufdringliche weichherzige, grausame alte Frauen. Er hatte recht, er hatte immer recht. Und die Männer, die sie für ihre Bedürfnisse und Spiele benutzt hatten, die Frau, die zugelassen hatte, daß sie benützt wurde – sie hatten recht gehabt, als sie sie bewußtlos schlugen und in das Feuer stießen, damit sie verbrannte. Nur hatten sie es nicht gründlich erledigt. Sie hatten den Mut verloren, hatten Leben in ihr gelassen. Das war falsch gewesen. Alles, was sie, Tenar, getan hatte, war falsch. Sie war als Kind den dunklen Mächten gegeben worden: Sie war von ihnen verzehrt worden, sie hatte zugelassen, daß sie verzehrt wurde. Glaubte sie, daß sie, indem sie das Meer überquerte, andere Sprachen lernte, die Frau eines Mannes, die Mutter von Kindern wurde, einfach ihr Leben lebte, jemals etwas anderes sein konnte, als sie war: ihre Dienerin, ihre Nahrung, ihr Besitz, den sie für ihre Bedürfnisse und Spiele verwendeten? Selbst zerstört, hatte sie die Zerstörte an sich gezogen, Teil ihres eigenen Untergangs, der Leib des eigenen Übels.
Die Haare des Kindes waren fein, warm, rochen süß. Sie hatte sich in der Wärme von Tenars Arm zusammengerollt und träumte. Wie konnte sie das Unrechte sein? Ihr war hoffnungslos Unrecht geschehen, aber sie war nichts Unrechtes. Nicht verloren, nicht verloren, nicht verloren. Tenar hielt sie, rührte sich nicht und richtete ihren Geist auf das Licht in ihren Träumen, auf die Tiefen aus leuchtender Luft, den Namen des Drachen, den Namen des Sterns, Herz des Schwans, den Pfeil, Tehanu.
Sie kämmte die schwarze Ziege, um die feine Unterwolle zu erhalten, die sie spinnen und einem Weber bringen würde, damit er sie zu Stoff verarbeitete, dem seidigen ›Vliesfell‹ von Gont. Die alte schwarze Ziege war tausendmal gekämmt worden, mochte es nicht und stemmte sich gegen das Ziehen und Zerren des Drahtkamms. Die ausgekämmten grauschwarzen Haare wuchsen zu einer schmutzigen weichen Wolke an, die Tenar schließlich in einen Netzbeutel stopfte; zum Dank klaubte sie einige Disteln von den Ohren der Ziege und tätschelte anerkennend die runden Flanken. »Bäh«, machte die Ziege und trabte davon. Tenar verließ die eingezäunte Weide, ging zur Vorderseite des Hauses und warf einen Blick auf die Wiese, um sich zu vergewissern, daß Therru noch immer dort spielte.
Tantchen Moor hatte dem Kind gezeigt, wie man Graskörbchen flocht, und obwohl die verkrüppelte Hand ungeschickt war, bekam sie allmählich heraus, wie sie es am besten bewerkstelligte. Sie saß im Gras und hielt ihre Arbeit im Schoß, aber sie arbeitete nicht. Sie beobachtete Sperber.
Er stand in einiger Entfernung von ihr, beinahe am Rand des Felsens. Er wandte Therru den Rücken zu und wußte nicht, daß ihn jemand beobachtete, denn er beobachtete einen Vogel, ein junges Turmfalkenweibchen; das Weibchen wieder beobachtete ein kleines Beutetier, das es im Gras entdeckt hatte. Es rüttelte über dem Tier, um die Maus oder Wühlmaus zu erschrecken und in Panik zu versetzen, so daß sie zu ihrem Loch rannte. Der Mann starrte den Vogel genauso hungrig und gespannt an. Er hob die rechte Hand langsam, mit ausgestrecktem Unterarm und schien zu sprechen, obwohl der Wind seine Worte forttrug. Das Falkenweibchen drehte ab, stieß seinen hohen, rauhen, durchdringenden Schrei aus und schoß in die Höhe und auf den Wald zu.
Der Mann senkte den Arm, rührte sich nicht und beobachtete weiterhin den Vogel. Das Kind und die Frau schwiegen. Nur der Vogel flog davon, entkam.
»Er ist einmal als Falke, als Wanderfalke, zu mir gekommen«, hatte Ogion an einem Wintertag am Feuer erzählt. Er hatte ihr die Zaubersprüche für das Gestaltwechseln vorgesagt, von Verwandlungen, vom Magier Bordger erzählt, der zum Bären geworden war. »Er flog aus dem Nordwesten zu mir, auf mein Handgelenk. Ich trug ihn zum Feuer hinein. Er konnte nicht sprechen. Weil ich ihn kannte, konnte ich ihm helfen; er konnte den Falken abstreifen und ein Mensch werden. Aber er hatte immer etwas von einem Habicht an sich. In seinem Dorf nannte man ihn Sperber, weil die wilden Falken auf ein Wort von ihm zu ihm kamen. Wer sind wir? Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Bevor er seinen Namen hatte, bevor er Wissen, bevor er Macht
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