Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
verloren, hatte ihr großes Geschenk verloren.
Nachdem sie jede Ecke der anderen Gebäude durchsucht hatte, ging sie ins Haus und schaute noch einmal in die Nische und hinter das zweite Bett. Sie schenkte sich Wasser ein, denn ihr Mund war trocken wie Sand.
Hinter der Tür bewegten sich die drei Stöcke, Ogions Stab und die Wanderstöcke, und einer von ihnen sagte: »Hier.«
Das Kind kauerte in der dunklen Ecke, hatte sich in seinen Körper zurückgezogen, so daß es nicht größer schien als ein kleiner Hund, hatte den Kopf auf die Schulter gebeugt, Arme und Beine dicht an sich gezogen, das eine Auge geschlossen.
»Kleiner Vogel, kleiner Spatz, kleine Flamme, was ist los? Was ist geschehen? Was hat man dir jetzt angetan?«
Tenar hielt den kleinen Körper, der unzugänglich und hart wie Stein war, wiegte ihn in den Armen. »Wie konntest du mich so erschrecken? Wie konntest du dich vor mir verstecken? Oh, ich war so zornig!«
Sie weinte, und die Tränen fielen auf das Gesicht des Kindes.
»O Therru, Therru, Therru, versteck dich nicht vor mir!«
Die verkrampften Glieder überlief ein Schauer, und sie lockerten sich langsam. Therru bewegte sich, hielt sich plötzlich an Tenar fest, drückte das Gesicht in die Grube zwischen Tenars Brust und Schulter, verstärkte den Griff und klammerte sich verzweifelt an. Sie weinte nicht. Sie weinte nie; vielleicht waren ihr die Tränen ausgebrannt worden; sie hatte keine Tränen. Aber sie stieß ein langes, stöhnendes, schluchzendes Geräusch aus.
Tenar hielt sie, wiegte sie, wiegte sie. Sehr, sehr langsam lockerte sich der verzweifelte Griff. Der Kopf ruhte an Tenars Brust.
»Erzähl es mir«, murmelte die Frau, und das Kind antwortete mit leisem heiserem Flüstern: »Er kam hierher.«
Tenars erster Gedanke war Ged, und ihr Geist, der noch immer mit der Raschheit der Angst reagierte, erfaßte, was sie dachte, sah, wer ›er‹ für sie war, und lächelte kurz und gequält, ging jedoch weiter, jagte. »Wer ist hierhergekommen?«
Keine Antwort, aber etwas wie ein inneres Erschauern.
»Ein Mann«, sagte Tenar ruhig, »ein Mann mit einer Ledermütze.«
Therru nickte einmal.
»Wir haben ihn auf der Straße gesehen, als wir hierherkamen.«
Keine Antwort.
»Die vier Männer – zu denen ich zornig war, erinnerst du dich? Er war einer von ihnen.«
Doch ihr fiel ein, wie Therru den Kopf gesenkt gehalten, die verbrannte Seite verborgen, nicht aufgeblickt hatte, wie sie es bei Fremden immer tat.
»Kennst du ihn, Therru?«
»Ja.«
»Von – von damals, als du in dem Lager am Fluß lebtest?«
Einmal Nicken.
Tenars Arme schlossen sich fester um sie.
»Er ist hierhergekommen?« fragte sie, und die ganze Angst, die sie empfunden hatte, verwandelte sich in Zorn, während sie sprach, in eine Wut, die im ganzen Körper wie ein Stab aus Feuer brannte. Sie stieß eine Art Lachen aus – »Ha!« – und erinnerte sich in diesem Augenblick an Kalessin, wie Kalessin gelacht hatte.
Doch für einen Menschen, eine Frau war das nicht so einfach. Das Feuer mußte im Zaum gehalten werden. Das Kind mußte getröstet werden.
»Hat er dich gesehen?«
»Ich habe mich versteckt.«
Tenar streichelte Therrus Haare. »Er wird dich nie anrühren, Therru. Versteh mich und glaub mir: Er wird dich nie wieder anrühren. Er wird dich nur wiedersehen, wenn ich bei dir bin, und dann muß er mit mir fertigwerden. Verstehst du, mein Schätzchen, mein Teures, mein Schönes? Du mußt ihn nicht fürchten. Du darfst ihn nicht fürchten. Er will, daß du ihn fürchtest. Er lebt von deiner Angst. Wir werden ihn aushungern, Therru. Wir werden ihn aushungern, bis er sich selbst ißt. Bis er erstickt, wenn er an den Knochen seiner eigenen Hände nagt … Ah, ah, ah, hör jetzt nicht auf mich, ich bin nur zornig, nur zornig … Bin ich rot? Bin ich jetzt rot wie eine Gontischfrau? Bin ich rot wie ein Drache?« Sie versuchte zu scherzen; Therru hob den Kopf, blickte aus ihrem verschrumpelten, zitternden, vom Feuer zerfressenen Gesicht in Tenars Gesicht auf und bestätigte: »Ja. Du bist ein roter Drache.«
Die Vorstellung, daß der Mann in das Haus gekommen war, im Haus gewesen war, vorbeigekommen war, um das Werk seiner Hände zu betrachten, vielleicht mit dem Gedanken, es zu vollenden – wenn diese Vorstellung Tenar überkam, war sie weniger ein Gedanke als ein ekelerregender Anfall, das Bedürfnis zu erbrechen. Doch der Zorn brannte diese Übelkeit aus.
Sie standen auf und wuschen sich, und Tenar
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