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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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an dem Haus des Webers, vorbei; er hatte sie nicht bemerkt. Sie sah zu, wie er, ohne anzuhalten, die Dorfstraße hinaufging. Er ging entweder zu der Abzweigung der Hügelstraße oder zum Herrenhaus.
    Tenar folgte ihm in einiger Entfernung, ohne zu überlegen warum, bis sie sah, welche Straße er einschlug. Er ging den Hügel hinauf zur Domäne des Herrn von Re Albi, nicht die Straße hinunter, die Ged eingeschlagen hatte.
    Sie drehte sich um und besuchte den alten Fan, den Fächer.
    Obwohl Fan, wie viele Weber, beinahe wie ein Einsiedler lebte, war er auf seine schüchterne Art freundlich zu dem kargischen Mädchen gewesen – und wachsam. Wie viele Menschen, dachte sie, hatten ihre Ehrbarkeit bewacht! Fan war jetzt beinahe blind und hatte ein Lehrmädchen, das die meiste Arbeit des Webens besorgte. Er freute sich, Besuch zu bekommen. Er saß beinahe feierlich auf einem alten geschnitzten Stuhl unter dem Gegenstand, von dem sich sein Gebrauchsname ableitete, einem sehr großen bemalten Fächer, dem Familienschatz, dem Geschenk – so lautete die Geschichte – eines großzügigen Piraten an Fans Großvater, weil dieser in drängender Zeit sehr rasch Segel angefertigt hatte. Der Fächer war an der Wand aufgeklappt zur Schau gestellt. Als Tenar den Fächer ansah, erkannte sie die zart gemalten Männer und Frauen in ihren prachtvollen rosaroten, jadefarbenen und azurblauen Gewändern, die Türme, Brücken und Banner des Großhafens von Havnor wieder. Besucher von Re Albi wurden oft hierhergeführt, um ihn zu besichtigen. Alle waren sich darüber einig, daß er das Schönste im Dorf war.
    Sie bewunderte ihn, weil dies dem alten Mann Freude bereitete und weil der Fächer wirklich sehr schön war, und er fragte: »Du hast auf allen deinen Reisen nicht viel gesehen, das ihm gleichkam, was?«
    »Nein, nein. Es gibt im Mitteltal überhaupt nichts wie ihn.«
    »Als du hier in meiner Hütte lebtest, habe ich dir da je die andere Seite gezeigt?«
    »Die andere Seite? Nein.« Jetzt bestand er darauf, den Fächer herunterzuholen; doch sie mußte hinaufsteigen und es für ihn erledigen, indem sie vorsichtig die Nägel herauszog, denn Fan sah nicht gut genug und konnte nicht mehr auf einen Stuhl steigen. Er erteilte ihr besorgt Anweisungen. Sie legte ihm den Fächer in die Hände, und er beobachtete ihn mit trüben Augen, schloß ihn halb, um sich zu vergewissern, daß die Stäbe frei spielten, dann schloß er ihn ganz, drehte ihn um und reichte ihn ihr.
    »Öffne ihn langsam!« befahl er.
    Sie gehorchte. Als sich die Falten des Fächers bewegten, bewegten sich Drachen. Die schwach und fein auf die vergilbte Seide gemalten blaßroten, blauen, grünen Drachen bewegten und gruppierten sich, so wie die Gestalten auf der anderen Seite zwischen Wolken und Berggipfeln Gruppen bildeten.
    »Halt ihn ans Licht!« forderte sie der alte Mann auf.
    Sie tat es und sah beide Seiten, beide Bilder, die durch das Licht, das die Seide durchdrang, zu einem Bild wurden, so daß die Wolken und Gipfel, die Türme der Stadt, die Männer und Frauen geflügelt waren und die Drachen mit menschlichen Augen blickten.
    »Siehst du es?«
    »Ich sehe es«, murmelte sie.
    »Ich kann es nicht mehr sehen, aber ich sehe es im Geist. Ich zeige es nicht vielen.«
    »Es ist ganz wunderbar.«
    »Ich wollte es dem alten Magier zeigen«, meinte Fan, »aber wie es so geht, kam ich nie dazu.«
    Tenar wendete den Fächer noch einmal vor dem Licht, dann befestigte sie ihn wieder wie vorher, die Drachen in der Dunkelheit versteckt, die Männer und Frauen im Tageslicht umhergehend.
    Dann führte Fan sie hinaus, um ihr seine Schweine zu zeigen, ein schönes Paar, das für die Herbstwürste ordentlich Fett ansetzte. Sie sprachen über Heides Unzulänglichkeiten als Spülichtträgerin. Tenar erzählte ihm, daß sie gern ein Stückchen Stoff für ein Kinderkleid hätte, und er war entzückt, zog für sie eine ganze Bahn feinen Bettleinens heraus, während die junge Frau, die sein Lehrmädchen war und anscheinend nicht nur sein Handwerk, sondern auch seine Ungeselligkeit übernommen hatte, gleichmäßig und mürrisch am breiten Webstuhl klapperte.
    Auf dem Heimweg stellte sich Tenar vor, wie Therru an diesem Webstuhl saß. Es wäre ein anständiger Lebensunterhalt. Der größte Teil der Arbeit war langweilig, immer wieder das gleiche, aber Weben war ein ehrbares Handwerk und wurde in manchen Händen zu einer edlen Kunst. Die Leute erwarteten von den Webern, daß sie ein wenig scheu,

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