Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
oft unverheiratet waren, weil sie in ihrer Arbeit aufgingen; doch sie wurden geachtet. Und wenn Therru zu Hause an einem Webstuhl arbeitete, mußte sie nicht ihr Gesicht zeigen. Aber die Klauenhand? Konnte diese Hand das Schiffchen schießen, die Kette anscheren?
    Und sollte sie sich ihr Leben lang verstecken?
    Doch was sollte sie tun? Obwohl du wußtest, welch für ein Leben sie erwartet …
    Tenar zwang sich, an etwas anderes zu denken. An das Kleid, das sie nähen wollte. Die Kleider von Lerches Töchtern waren rauh und selbstgesponnen, unansehnlich wie Schlamm. Sie konnte die Hälfte der Bahn färben, vielleicht gelb oder mit roter Färberwurzel aus dem Sumpf; und dann eine weite weiße Schürze oder ein weißes Überkleid mit einer Rüsche. Sollte sich das Kind an einem Webstuhl in der Finsternis verstecken und nie eine Rüsche am Rock tragen? Es bliebe noch genug Stoff für ein Hemd und eine zweite Schürze übrig, wenn sie geschickt zuschnitt.
    »Therru!« rief sie, als sie sich dem Haus näherte. Als sie fortging, waren Heide und Therru auf der Besenginsterweide gewesen. Sie rief erneut, weil sie Therru den Stoff zeigen und ihr vom Kleid erzählen wollte. Heide, die Sippy an einem Strick hinter sich herzog, kam glotzend vom Quellhaus.
    »Wo ist Therru?«
    »Bei dir«, antwortete Heide so unbekümmert, daß Tenar sich nach dem Kind umsah, bevor sie begriff, daß Heide keine Ahnung hatte, wo Therru steckte, und einfach behauptet hatte, was sie gern wahrgehabt hätte.
    »Wo hast du sie gelassen?«
    Heide wußte es nicht. Sie hatte Tenar noch nie in Stich gelassen; sie hatte anscheinend verstanden, daß man Therru mehr oder weniger im Auge behalten mußte, wie eine Ziege. Aber vielleicht war es die ganze Zeit über Therru gewesen, die das begriffen hatte und in Sichtweite geblieben war? Das dachte Tenar, und weil sie von Heide keinen verständlichen Hinweis bekam, begann sie das Kind zu suchen und nach ihm zu rufen, und erhielt keine Antwort.
    Sie blieb dem Rand des Felsens so lange fern, wie es ihr möglich war. An ihrem ersten Tag in Ogions Haus hatte sie Therru erklärt, daß sie nie allein über die steilen Wiesen unterhalb des Hauses oder am Steilabfall im Norden entlanggehen durfte, weil man mit einem Auge Entfernung oder Tiefe nicht genau abschätzen konnte. Das Kind hatte gehorcht. Sie gehorchte immer. Doch Kinder vergessen. Aber sie würde es nicht vergessen. Vielleicht war sie nahe an den Rand geraten, ohne es zu merken. Doch sie war sicherlich zu Tantchen Moors Haus gegangen. Das war es – weil sie gestern abend allein dorthin gegangen war, ging sie wieder dorthin. Das war es, natürlich.
    Sie war nicht dort. Die Hexe hatte sie nicht gesehen.
    »Ich werde sie finden, ich werde sie finden, Schätzchen«, versicherte sie Tenar; aber statt den Waldweg hinaufzugehen, um Therru zu suchen, knotete sich Tantchen Moor als Vorbereitung zu einem Such-Zauber die Haare zusammen.
    Tenar lief zu Ogions Haus zurück und rief unterwegs immer wieder Therrus Namen. Diesmal blickte sie auf die steilen Wiesen unterhalb des Hauses hinunter und hoffte, die kleine Gestalt zwischen den Felsen zu sehen, wo sie hockte und spielte. Doch sie erblickte nur das zerfurchte dunkle Meer am Ende der abfallenden Wiesen, und ihr wurde schwindlig und übel.
    Sie ging zu Ogions Grab und ein kurzes Stück an ihm vorbei den Waldweg hinauf und rief. Als sie über die Wiese zurückkam, jagte das Turmfalkenweibchen an der gleichen Stelle, an der Ged es beobachtet hatte. Diesmal stürzte es hinunter, schlug zu und erhob sich mit einem kleinen Geschöpf in den Fängen. Es flog rasch zum Wald. Sie füttert ihre Jungen, dachte Tenar. Die unterschiedlichsten Gedanken schossen ihr sehr deutlich und genau durch den Kopf, als sie an der jetzt trockenen, auf dem Gras ausgebreiteten Wäsche vorbeikam – sie mußte sie vor dem Abend hereinholen. Sie mußte sorgfältiger in der Nähe des Hauses, des Quellhauses, des Melkschuppen suchen. Es war ihr Fehler. Sie war daran schuld, weil sie daran gedacht hatte, Therru zu einer Weberin zu machen, sie in die Dunkelheit wegzuschließen, damit sie dort arbeitete, damit sie ehrbar war. Obwohl Ogion gesagt hatte: »Lehre sie, lehre sie alles, Tenar!« Obwohl sie wußte, daß ein Unrecht nicht wiedergutgemacht werden konnte, sondern überwunden werden mußte. Obwohl sie wußte, daß das Kind ihr anvertraut worden war und daß sie ihre Aufgabe nicht erfüllt hatte; sie hatte Therrus Vertrauen enttäuscht, hatte sie

Weitere Kostenlose Bücher