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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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merkte, daß sie jetzt vor allem Hunger hatte. »Ich bin hungrig«, sagte sie zu Therru und stellte eine ausgiebige Mahlzeit aus Brot und Käse, kalten Bohnen in Öl und Kräutern, Zwiebelscheiben und trockener Wurst auf den Tisch. Therru aß reichlich, und Tenar aß reichlich.
    Während sie abräumten, sagte Tenar: »Vorläufig, Therru, werde ich dich nicht verlassen, und du wirst mich nicht verlassen. In Ordnung? Wir sollten jetzt beide zu Tantchen Moors Haus gehen. Sie wirkt einen Zauber, um dich zu finden, und sie muß sich die Mühe nicht mehr machen, aber vielleicht weiß sie das nicht.«
    Therru bewegte sich nicht mehr. Sie warf einen Blick zur offenen Tür und wich davor zurück.
    »Wir müssen auch die Wäsche hereintragen. Auf dem Rückweg. Wenn wir zurückkommen, zeige ich dir den Stoff, den ich heute bekommen habe. Für ein Kleid. Für ein neues Kleid für dich. Ein rotes Kleid.«
    Das Kind zog sich in sich zurück.
    »Wenn wir uns verstecken, Therru, geben wir ihm Nahrung. Wir wollen essen. Wir wollen ihn aushungern. Komm mit.«
    Die Schwierigkeit, das Hindernis dieser Tür zur Außenwelt, war für Therru fürchterlich. Sie wich davor zurück, sie versteckte das Gesicht, sie zitterte, taumelte, es war grausam, sie dazu zu zwingen, die Tür zu durchschreiten, grausam, sie aus ihrem Versteck zu treiben, aber Tenar kannte kein Erbarmen. »Komm!« sagte sie, und das Kind kam.
    Sie gingen Hand in Hand über die Wiesen zum Haus der Hexe; Therru schaffte es, ein- oder zweimal aufzublicken.
    Die Hexe war nicht erstaunt, als sie eintrafen, aber sie hatte etwas Merkwürdiges, Argwöhnisches an sich. Sie sagte Therru, sie solle ins Haus laufen, sich die frisch geschlüpften Küken der Kragenhenne ansehen und zwei davon für sich aussuchen; und Therru verschwand sofort in diesem Zufluchtsort.
    »Sie war die ganze Zeit über im Haus«, berichtete Tenar. »Versteckte sich.«
    »Das war gut«, meinte die Hexe.
    »Warum?« fragte Tenar scharf. Sie war nicht in Rätsellaune.
    »Es sind – es sind Geschöpfe unterwegs«, antwortete die Hexe, nicht unheilvoll, sondern sehr beklommen.
    »Es sind Schurken unterwegs!« stellte Tenar fest; die alte Hexe sah sie an und zog sich ein bißchen zurück.
    »Aber, aber«, beschwichtigte sie. »Aber, Schätzchen. Du hast Feuer um dich, einen Feuerschein um den Kopf. Ich habe einen Zauber gewirkt, um das Kind zu finden, aber er ging daneben. Er ist irgendwie seinen eigenen Weg gegangen, und ich weiß nicht, ob er schon vorbei ist. Ich bin verwirrt. Ich habe große Wesen gesehen. Ich suchte das kleine Mädchen, aber ich sah sie, sie flogen in den Bergen, sie flogen in den Wolken. Und jetzt hast du etwas an dir, als würde dein Haar brennen. Was stimmt nicht, was ist schiefgegangen?«
    »Ein Mann mit einer Ledermütze. Ein jüngerer Mann. Sieht ganz gut aus. Die Schulternaht an seiner Weste ist aufgeplatzt. Hast du ihn gesehen?«
    Tantchen Moor nickte. »Sie nahmen ihn im Herrenhaus zum Heuen auf.«
    »Ich habe dir erzählt, daß sie« – Tenar blickte zum Haus – »mit einer Frau und zwei Männern zusammen war. Er ist einer von ihnen.«
    »Du meinst, einer von denen, die …«
    »Ja.«
    Tantchen Moor stand da wie die Holzstatue einer alten Frau, steif, ein Block. »Ich weiß nichts«, sagte sie schließlich. »Ich habe geglaubt, daß ich genug weiß. Aber das stimmt nicht. Was – was würde … Kommt er, um – um sie zu sehen?«
    »Wenn er der Vater ist, ist er vielleicht gekommen, um Anspruch auf sie zu erheben.«
    »Anspruch erheben?«
    »Sie ist sein Eigentum.«
    Tenar sprach ausdruckslos. Während sie sprach, blickte sie zu den Höhen des Gontbergs hinauf.
    »Aber ich glaube nicht, daß er der Vater ist. Ich glaube, daß es der andere ist. Derjenige, der in das Dorf kam und meiner Freundin erzählte, daß das Kind ›sich verletzt‹ habe.«
    Die Hexe war noch immer verwirrt, noch immer durch die eigenen Beschwörungen und Visionen, durch Tenars Heftigkeit, durch die Anwesenheit des abscheulichen Bösen verängstigt. Sie schüttelte unglücklich den Kopf. »Ich weiß nichts«, wiederholte sie. »Ich habe geglaubt, daß ich genug weiß. Wie konnte er zurückkommen?«
    »Um zu essen«, erwiderte Tenar. »Um zu essen. Ich werde sie nicht mehr alleinlassen. Aber morgen werde ich dich vielleicht bitten, sie früh am Tag etwa eine Stunde hierzubehalten. Tust du das, während ich zum Herrenhaus hinaufgehe?«
    »Ja, Schätzchen. Natürlich. Ich könnte sie mit einem Versteck-Zauber

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