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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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sich nicht.
    Sie lief auf den Pier hinaus, aber nach einiger Zeit stolperte Therru und konnte nicht weiter, weil sie keine Luft bekam. Tenar hob sie hoch, das Kind hielt sich an ihr fest und verbarg das Gesicht an Tenars Schulter. Doch Tenar konnte sich mit dieser Last kaum mehr bewegen. Ihre Beine zitterten. Sie tat einen Schritt, noch einen, noch einen. Sie gelangte zu der kleinen hölzernen Brücke, die man vom Pier zum Deck des Schiffes gelegt hatte, und legte die Hand auf das Geländer.
    Ein Matrose an Deck, ein drahtiger kahlköpfiger Kerl, musterte sie. »Was ist los, Mistress?« fragte er.
    »Ist – ist das Schiff aus Havnor?«
    »Aus der Königsstadt, klar.«
    »Laßt mich an Bord!«
    »Das kann ich nicht«, grinste der Mann, aber sein Blick wanderte weiter; er sah den Mann an, der sich neben Tenar gestellt hatte.
    »Du mußt nicht davonlaufen«, sagte Flinko zu ihr. »Ich will dir nichts Böses tun. Ich will dich nicht verletzen. Du verstehst es nicht. Ich war derjenige, der Hilfe für sie geholt hat, oder? Was geschehen war, tat mir wirklich leid. Ich möchte dir ihretwegen helfen.« Er streckte die Hand aus, als empfände er das unwiderstehliche Bedürfnis, Therru zu berühren. Tenar konnte sich nicht rühren. Sie hatte Therru versprochen, daß er sie nie wieder anfassen werde. Sie sah, wie die Hand den zurückzuckenden nackten Arm des Kindes berührte.
    »Was willst du von ihr?« fragte eine neue Stimme. Ein anderer Matrose war an die Stelle des Kahlkopfs getreten: ein junger Mann. Tenar dachte, es könnte ihr Sohn sein.
    Flinko antwortete schnell. »Sie hat – sie hat mir mein Kind weggenommen. Meine Nichte. Sie gehört mir. Sie hat sie verhext, ist mit ihr davongelaufen, sieh doch …«
    Sie konnte überhaupt nicht sprechen. Die Worte hatten sie wieder verlassen, waren ihr genommen worden. Der junge Matrose war nicht ihr Sohn. Sein Gesicht war schmal und streng, seine Augen waren klar. Als sie ihn ansah, fand sie die Worte wieder: »Laß mich an Bord. Bitte!«
    Der junge Mann hielt ihr die Hand hin. Sie ergriff sie, und er führte sie über die Gangway auf das Deck des Schiffs.
    »Warte hier«, sagte er zu Flinko, und zu ihr: »Komm mit!«
    Aber die Beine trugen sie nicht mehr. Sie sank kraftlos auf das Deck des Schiffs aus Havnor, ließ den schweren Sack fallen, klammerte sich jedoch an das Kind. »Laß nicht zu, daß er sie nimmt, oh, laß nicht zu, daß sie sie bekommen, nicht wieder, nicht wieder, nicht wieder!«

Der Delphin
    SIE WOLLTE DAS KIND nicht loslassen, sie wollte ihnen das Kind nicht geben. An Bord des Schiffs befanden sich nur Männer. Erst nach langer Zeit war sie allmählich imstande zu erfassen, was sie sagten, was getan wurde, was geschah. Als sie begriff, wer der junge Mann war, den sie für ihren Sohn gehalten hatte, war ihr, als habe sie es die ganze Zeit über gewußt, sei aber nicht imstande gewesen, es zu denken. Sie war zum Denken überhaupt nicht imstande gewesen.
    Er war von den Docks auf das Schiff zurückgekommen und sprach jetzt in der Nähe der Gangway mit einem grauhaarigen Mann, der dem Aussehen nach der Kapitän des Schiffs war. Er blickte zu Tenar herüber, die sich mit Therru in eine Ecke des Decks zwischen der Reling und eine große Winde gekauert hatte. Die Erschöpfung des langen Tages war stärker gewesen als ihre Angst: Therru schlief tief und fest dicht neben Tenar; ihr kleiner Ranzen diente ihr als Kopfkissen und ihr Mantel als Decke. Tenar stand langsam auf, und der junge Mann kam sofort zu ihr. Sie zog den Rock zurecht und versuchte das Haar glattzustreichen. »Ich bin Tenar von Atuan«, sagte sie. Er blieb stehen. »Ich nehme an, Ihr seid der König«, fügte sie hinzu.
    Er war sehr jung, jünger als ihr Sohn Funke. Er war vielleicht nicht einmal zwanzig. Aber er hatte etwas an sich, das überhaupt nicht jung war, etwas in seinen Augen ließ sie denken: Er ist durch das Feuer gegangen.
    »Mein Name ist Lebannen von Enlad, Mylady«, sagte er und war im Begriff, sich zu verbeugen oder gar vor ihr niederzuknien. Sie ergriff seine Hände, so daß sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. »Weder Ihr vor mir«, wehrte sie ab, »noch ich vor Euch.«
    Er lachte überrascht und hielt ihre Hände fest, während er sie offen betrachtete. »Woher wußtet Ihr, daß ich Euch suche? Wart Ihr zu mir unterwegs, als dieser Mann …?«
    »Nein, nein. Ich floh – vor ihm – vor – vor Rohlingen … Ich versuchte, nach Hause zu gelangen, das ist

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