Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
sehr seltsame Plätze. Sie hatte nie dort gelebt. Sie hatte die größte Stadt in Erdsee, Havnor, einmal eine Zeitlang gesehen; und sie war vor Jahren mit Ged in den Hafen von Gont gesegelt, aber sie waren die Straße zum Oberfell hinaufgestiegen, ohne sich in den Gassen aufzuhalten. Die einzige Stadt, die sie noch kannte, war Thalmund, wo ihre Tochter lebte, eine verschlafene, sonnige, kleine Hafenstadt, wo ein Handelsschiff von den Andrades ein großes Ereignis war und wo sich die Gespräche der Bewohner hauptsächlich um Trockenfisch drehten.
Als sie und das Kind die Straßen von Gonthafen erreichten, stand die Sonne noch hoch über dem Westlichen Meer. Therru war fünfzehn Meilen gegangen, ohne zu jammern und ohne erschöpft zu sein, obwohl sie sicherlich sehr müde war. Auch Tenar war müde, weil sie die vorhergehende Nacht nicht geschlafen hatte und sehr verzweifelt gewesen war; auch waren Ogions Bücher eine schwere Bürde gewesen. Auf halbem Weg hatte sie sie in den Ranzen gepackt und das Essen und die Kleidung in den Wollsack gesteckt, wo es sich leichter tragen ließ, aber nicht sehr viel besser. Sie schleppten sich zwischen den außerhalb der Mauer liegenden Häusern zum Landtor der Stadt, wo die Landstraße zwischen zwei aus Stein gemeißelten Drachen zu einer Stadtstraße wurde. Dort faßte sie ein Mann, der Torwächter, scharf ins Auge. Therru neigte das verbrannte Gesicht zur Schulter und versteckte die verbrannte Hand unter der Schürze des Kleids.
»Sucht ihr ein Haus in der Stadt auf, Mistress?« fragte der Wächter und sah das Kind an.
Tenar wußte nicht, was sie antworten sollte. Sie wußte nicht, daß an den Stadttoren Wächter standen. Sie hatte kein Geld, um Maut oder einen Wirt zu bezahlen. Sie kannte keine Menschenseele in Gonthafen – außer, fiel ihr jetzt ein, den Zauberer, der hinaufgekommen war, um Ogion zu begraben, wie hieß er noch? Aber sie wußte nicht, wie er hieß. Sie stand mit offenem Mund da, wie Heide.
»Geht weiter, geht weiter!« sagte der Wächter gelangweilt und wandte sich ab.
Sie wollte ihn fragen, wo sie die nach Süden führende Straße über die Landzunge finden könne, die Küstenstraße nach Thalmund; aber sie wagte nicht, ihn wieder auf sich aufmerksam zu machen, damit er nicht zu der Überzeugung gelangte, sie sei doch eine Landstreicherin oder eine Hexe oder wen immer er und die steinernen Drachen nicht nach Gonthafen hineinlassen sollten. Sie gingen also zwischen den Drachen hindurch – Therru blickte kurz auf, um sie anzusehen – und wanderten auf dem Kopfsteinpflaster immer erstaunter, verwirrter und verlegener weiter. Tenar hatte nicht den Eindruck, daß irgendwer oder irgendwas auf dieser Welt nicht nach Gonthafen hereingelassen worden war. Es gab alles. Hohe Häuser aus Stein, Wagen, Rollwagen, Karren, Rinder, Esel, Marktplätze, Läden, Menschenmengen, Menschen, Menschen – je weiter sie gingen, desto mehr Menschen gab es. Therru klammerte sich an Tenars Hand, schlich dahin, verbarg das Gesicht hinter dem Haar. Tenar klammerte sich an Therrus Hand.
Sie sah keine Möglichkeit, hierzubleiben, also blieb ihnen nur eines übrig: sich nach Süden zu wenden, bis zum Einbruch der Nacht – die nur zu bald kommen würde –, weiterzugehen und im Wald zu lagern. Tenar entschied sich für eine breite Frau mit breiter weißer Schürze, die die Rolläden eines Geschäfts hinunterließ, und überquerte die Gasse, um sie nach der Straße zu fragen, die nach Süden aus der Stadt hinausführte. Das ruhige rote Gesicht der Frau sah freundlich aus, aber als Tenar ihren Mut zusammennahm, um mit ihr zu sprechen, klammerte sich Therru krampfhaft an sie, als wolle sie sich bei ihr verstecken, und als Tenar aufblickte, sah sie den Mann mit der Ledermütze, der ihr entgegenkam. Er erblickte sie im gleichen Augenblick und blieb stehen.
Tenar packte Therru am Arm, zog sie halb und schwang sie halb herum. »Komm!« stieß sie hervor und ging an dem Mann vorbei. Sobald sie ihn hinter sich gelassen hatte, schritt sie schneller aus, ging bergab, dem Leuchten und der Dunkelheit des Wassers im Sonnenuntergang entgegen, zu den Docks und Kais am Ende der steilen Straße. Therru lief neben ihr her und keuchte, wie sie gekeucht hatte, nachdem sie verbrannt worden war.
Hohe Masten schwankten vor dem roten und gelben Himmel. Das Schiff lag mit gerefften Segeln hinter einer Rudergaleere am steinernen Pier.
Tenar blickte zurück. Der Mann folgte ihnen auf den Fersen. Er beeilte
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