Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
alles.«
»Nach Atuan?«
»O nein. Auf meine Farm. Im Mitteltal. Auf Gont, hier.« Auch sie lachte, ein Lachen, in dem Tränen waren. Die Tränen konnten jetzt geweint werden und wurden geweint. Sie ließ die Hände des Königs los, um sich die Augen zu wischen.
»Wo liegt das Mitteltal?« fragte er.
»Südöstlich, hinter der Landzunge. Der Hafen heißt Thalmund.«
»Wir werden Euch hinbringen.« Es freute ihn, in der Lage zu sein, ihr dies anzubieten.
Sie lächelte, trocknete sich die Augen und nickte.
»Ein Glas Wein. Etwas zu essen, Ruhe und ein Bett für Euer Kind«, sagte er. Der Kapitän, der unauffällig zuhörte, erteilte Befehle. Der kahle Matrose, den sie vor scheinbar langer Zeit gesehen hatte, trat vor. Er wollte Therru hochheben. Tenar stand zwischen ihm und dem Kind. Sie konnte nicht zulassen, daß er sie anrührte. »Ich werde sie tragen«, entschied sie, und ihre Stimme klang vor Anspannung hoch.
»Es geht eine Treppe hinunter, Mistress. Überlaßt es mir«, widersprach der Matrose. Sie wußte, daß er freundlich war, aber sie konnte nicht zulassen, daß er Therru berührte.
»Laßt mich«, sagte der junge Mann, der König, sah sie erlaubnisheischend an, kniete nieder, hob das schlafende Kind hoch, trug es zur Luke und die Treppenleiter hinunter. Tenar folgte ihm.
Er legte Therru vorsichtig, zärtlich in eine Koje der Kabine und hüllte sie in den Mantel. Tenar ließ es zu.
In einer größeren Kabine, die das Heck des Schiffes einnahm und ein großes Fenster besaß, durch das man die Bucht im Dämmerlicht sah, bot er Tenar am Eichentisch Platz an. Er übernahm von dem Schiffsjungen das Tablett, das dieser brachte, goß Rotwein in Kelchgläser aus schwerem Glas, bot ihr Früchte und Kuchen an.
Sie kostete den Wein.
»Er ist sehr gut, aber nicht das Drachenjahr«, sagte sie.
Er sah sie offen überrascht an, wie ein Junge.
»Von Enlad, nicht von den Andrades«, erklärte er bescheiden.
»Er ist sehr gut«, versicherte sie ihm und trank wieder. Sie nahm ein Stück Kuchen. Es war Mürbekuchen, sehr nahrhaft, nicht süß. Die grünen und bernsteinfarbenen Trauben darin schmeckten süß und herb. Der kräftige Geschmack des Essens und des Weins war wie die Taue, mit denen das Schiff vertäut war, sie stellten die Verbindung mit der Welt, mit ihrem Verstand wieder her.
»Ich fürchtete mich sehr«, sagte sie als Entschuldigung. »Ich werde bald wieder ich selbst sein. Gestern – nein, heute, heute morgen – wurde ein – ein Zauberbann …« Es war ihr beinahe unmöglich, das Wort auszusprechen, sie stammelte: »Ich wurde mit einem Fluch belegt. Er nahm mir die Sprache und den Verstand, glaube ich. Wir liefen vor ihm davon, aber wir rannten geradewegs zu dem Mann, dem Mann, der …« Sie blickte verzweifelt zu dem jungen Mann auf, der ihr zuhörte. Seine ernsten Augen ließen sie aussprechen, was gesagt werden mußte. »Er war einer der Leute, die das Kind verkrüppelten. Er und die Eltern. Sie vergewaltigten es, schlugen es zusammen und verbrannten es; solche Dinge geschehen, Mylord. Solche Dinge stoßen Kindern zu. Er hört nicht auf, sie zu verfolgen, um an sie heranzukommen. Und …«
Sie unterbrach sich, trank Wein und zwang sich, den Geschmack wahrzunehmen.
»So bin ich von ihm zu Euch gelaufen. Zum Hafen.« Sie betrachtete die niedrigen geschnitzten Deckenbalken der Kabine, den polierten Tisch, das Silbertablett, das schmale ruhige Gesicht des jungen Mannes. Sein Haar war dunkel und weich, die Haut ein reines Bronzerot; er war gut und einfach gekleidet, trug keine Kette, keinen Ring, kein äußeres Kennzeichen seines Rangs. Aber er sieht so aus, wie ein König aussehen sollte, dachte sie.
»Es tut mir leid, daß ich den Mann laufen ließ«, sagte er. »Aber man kann ihn wiederfinden. Wer belegte Euch mit dem Fluch?«
»Ein Zauberer.« Sie wollte den Namen nicht nennen. Sie wollte nicht daran denken. Sie wollte alles hinter sich lassen. Keine Vergeltung, keine Verfolgung. Überlaß sie ihrem Haß, laß sie hinter dir, vergiß.
Lebannen drängte sie nicht, sondern fragte: »Werdet Ihr auf Eurem Hof vor diesen Männern sicher sein?«
»Ich glaube schon. Wenn ich nicht so müde, so verwirrt durch den … durch den … geistig so verwirrt gewesen wäre, daß ich nicht mehr denken konnte, hätte ich keine Angst vor Flinko gehabt. Was hätte er tun können? Wenn auf der Straße so viele Menschen unterwegs waren? Ich hätte nicht vor ihm davonlaufen sollen. Aber ich fühlte nur
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