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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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ihre Angst. Sie ist so klein, sie kann nichts anderes tun, als ihn fürchten. Sie wird lernen müssen, ihn nicht zu fürchten. Das muß ich ihr beibringen …« Sie verlor den Faden. Ihr fielen im Geist Gedanken auf kargisch ein. Hatte sie kargisch gesprochen? Er mochte glauben, daß sie verrückt war, eine alte verrückte Frau, die daherplapperte. Sie blickte verstohlen zu ihm auf. Seine dunklen Augen waren nicht auf sie gerichtet; er betrachtete die Flamme der Glaslampe, die tief über dem Tisch hing, eine kleine, ruhige, klare Flamme. Sein Gesicht war für das Gesicht eines jungen Mannes zu traurig.
    »Ihr seid gekommen, um ihn zu suchen«, stellte sie fest. »Den Obersten Magier. Sperber.«
    »Ged.« Er sah sie mit einem schwachen Lächeln an. »Ihr, er und ich sind unter unseren wahren Namen bekannt.«
    »Ihr und ich ja. Aber er nur Euch und mir.«
    Er nickte.
    »Er ist durch Neider, durch Männer bösen Willens in Gefahr, und er hat jetzt keine – keine Verteidigung. Wißt Ihr das?«
    Sie konnte sich nicht dazu überwinden, deutlicher zu werden, aber Lebannen erwiderte: »Er erzählte mir, daß er seine Macht als Magier verloren habe. Er hatte sich mit der Tat verausgabt, die mich und uns alle rettete. Doch es fiel mir schwer, es zu glauben. Ich wollte ihm nicht glauben.«
    »Genau wie ich. Aber es ist so. Und deshalb …« Sie zögerte erneut. »Er will allein sein, bis seine Wunden geheilt sind«, sagte sie schließlich vorsichtig.
    »Er und ich waren zusammen in dem dunklen Land, dem trockenen Land«, erzählte Lebannen. »Wir starben zusammen. Wir überquerten dort zusammen die Berge. Man kann über die Berge zurückkommen. Es gibt einen Weg. Er kannte ihn. Aber der Name der Berge ist Schmerz. Die Steine … Die Steine schneiden, und die Schnitte brauchen lange, um zu heilen.«
    Er blickte auf seine Hände hinunter. Sie dachte an Geds zerschnittene, aufgerissene Hände, die sich über den Wunden geballt hatten. Die die Schnitte zusammenhielten, geschlossen hielten.
    Ihre Hand schloß sich um den kleinen Stein in der Tasche, das Wort, das ihr auf der steilen Straße eingefallen war.
    »Warum verbirgt er sich vor mir?« rief der junge Mann voll Kummer. Dann fuhr er leise fort: »Ich habe tatsächlich gehofft, ihn wiederzusehen. Aber wenn er es nicht wünscht, dann ist das natürlich abgetan.« Sie bemerkte die höfische Art, die Höflichkeit, die würdevolle Haltung der Boten aus Havnor wieder und schätzte sie; sie kannte ihren Wert. Aber sie liebte ihn seines Kummers wegen.
    »Er wird sicherlich zu Euch kommen. Gebt ihm nur Zeit. Er wurde so schwer verletzt – alles wurde ihm genommen … Doch wenn er von Euch sprach, wenn er Euren Namen nannte, dann sah ich ihn einen Augenblick lang, wie er war – wie er wieder sein wird –: voll Stolz!«
    »Stolz?« wiederholte Lebannen, als sei er erschrokken.
    »Ja. Stolz. Wer sollte stolz sein, wenn nicht er?«
    »Ich hielt ihn immer für … Er war so geduldig«, meinte Lebannen und lachte über seine unzulängliche Beschreibung.
    »Jetzt hat er keine Geduld«, stellte sie fest, »und ist über alle Maßen hart zu sich selbst. Ich glaube, daß wir nur eines für ihn tun können: ihn seinen eigenen Weg gehen lassen, bis er sich nicht mehr zu helfen weiß, wie man auf Gont sagt …« Plötzlich wußte sie sich selbst nicht mehr zu helfen, sie war so müde, daß ihr übel wurde. »Ich glaube, ich muß mich jetzt ausruhen«, flüsterte sie.
    Er erhob sich sofort. »Ihr habt gesagt, Lady Tenar, daß Ihr vor einem Feind geflohen seid und einen anderen gefunden habt; doch ich bin hierhergekommen, um einen Freund zu suchen, und habe einen anderen gefunden.« Sie lächelte über die geistreiche Formulierung und über seine Freundlichkeit. Welch ein netter Junge, dachte sie.
    Als sie erwachte, war das ganze Schiff in Bewegung: Balken knarrten und stöhnten, über ihrem Kopf polterten laufende Füße, Segel rasselten, Matrosen riefen. Therru war schwer aufzuwecken und erwachte matt, vielleicht etwas fiebrig, obwohl sie immer so glühte, daß es Tenar schwerfiel, ihre Temperatur zu schätzen. Sie machte sich Vorwürfe wegen der gestrigen Geschehnisse, auch deshalb, weil sie das zarte Kind über fünfzehn Meilen zu Fuß mit sich geschleppt hatte. Sie versuchte, Therru aufzuheitern, indem sie ihr erzählte, daß sie auf einem Schiff führen, daß sich auf dem Schiff ein wirklicher König befinde, daß der kleine Raum, in dem sie saßen, der Raum des Königs sei; daß das

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