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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Schiff sie nach Hause bringe, zum Eichenhof, daß Tante Lerche zu Hause auf sie warte und daß vielleicht auch Sperber da sein werde. Nicht einmal das weckte Therrus Aufmerksamkeit. Sie war leer, unbeweglich, stumm.
    Auf Therrus kleinem dünnen Arm entdeckte Tenar einen Fleck – vier Fingerabdrücke, rot, wie ein Brandmal, als habe ein Griff die Haut gequetscht. Aber Flinko hatte sie nicht gepackt, nur berührt. Tenar hatte Therru erklärt, ihr versprochen, daß er sie nie wieder berühren werde. Das Versprechen war gebrochen worden. Ihr Wort bedeutete nichts. Welches Wort bedeutete etwas gegen rohe Gewalt?
    Sie beugte sich hinunter und küßte den Fleck auf Therrus Arm.
    »Es tut mir leid, daß ich noch nicht dazugekommen bin, dein rotes Kleid fertigzunähen«, sagte sie. »Der König sähe es wahrscheinlich gern. Aber andererseits nehme ich an, daß die Leute auf einem Schiff auch nicht ihre beste Kleidung tragen, nicht einmal ein König.«
    Therru saß mit gesenktem Kopf auf der Koje und antwortete nicht. Tenar bürstete ihr das Haar. Es wuchs endlich dicht, ein seidiger schwarzer Vorhang vor den verbrannten Teilen der Kopfhaut. »Bist du hungrig, Vögelchen? Du hast gestern nicht zu abend gegessen. Vielleicht wird der König uns ein Frühstück schicken. Er reichte mir gestern abend Kuchen und Trauben.«
    Keine Antwort.
    Als Tenar erklärte, es sei Zeit, den Raum zu verlassen, gehorchte Therru. Auf Deck legte sie den Kopf auf die Schulter. Sie blickte weder zu den vom Morgenwind geschwellten weißen Segeln hinauf noch auf das funkelnde Wasser, noch zurück zum Gontberg, der seine Masse und die erhabene Einheit von Wald, Felsen und Gipfel zum Himmel erhob. Sie blickte nicht auf, als Lebannen zu ihr sprach.
    Tenar kniete neben ihr nieder. »Wenn ein König zu dir spricht, Therru, antwortest du.«
    Therru schwieg.
    Der Ausdruck auf Lebannens Gesicht, als er sie ansah, war unergründlich. Vielleicht eine Maske, eine höfliche Maske, um Abscheu, Entsetzen zu verbergen. Aber seine dunklen Augen blickten ruhig. Er berührte den Arm des Kindes sehr leicht und sagte: »Es muß für dich seltsam sein, mitten auf dem Meer aufzuwachen.«
    Therru wollte nur ein wenig Obst essen. Als Tenar sie fragte, ob sie in die Kabine zurückkehren wolle, nickte sie. Tenar ließ sie nur ungern allein zurück – Therru hatte sich in der Koje zusammengerollt – und kehrte an Deck zurück.
    Das Schiff fuhr zwischen den Festungsklippen hindurch, hohen grimmigen Mauern, die sich über die Segel zu beugen schienen. Bogenschützen in kleinen Forts, die wie die Nester der Seeschwalben hoch auf den Klippen klebten, blickten auf die Männer an Deck herunter, und die Matrosen riefen fröhlich zu ihnen hinauf. »Weg frei für den König!« riefen sie, und die Antwort kam unten nicht lauter an als die Rufe der Schwalben auf den Höhen: »Der König!«
    Lebannen stand mit dem Kapitän und einem älteren mageren Mann mit schmalen Augen, der den grauen Umhang der Magier von der Insel Rok trug, am Bug des Schiffs. Ged hatte einen solchen reinen, schönen Umhang an jenem Tag getragen, da er und Tenar den Ring von Erreth-Akbe zum Turm des Schwertes gebracht hatten; ein alter, fleckiger, schmutziger, abgenützter Umhang war seine Decke auf dem kalten Stein der Gräber von Atuan und auf dem Staub der Wüstenberge gewesen, als sie gemeinsam diese Berge überquerten. Daran dachte sie, während der Schaum an den Schiffswänden vorbeiflog und die hohen Klippen hinter ihnen zurückblieben.
    Als das Schiff die letzten Felsen hinter sich hatte und Kurs nach Osten nahm, kamen die drei Männer zu ihr. »Mylady«, sagte Lebannen, »dies ist Meister Windschlüssel von der Insel Rok.«
    Der Magier verbeugte sich und betrachtete sie; in den scharfen Augen lagen Anerkennung und Neugierde. Ein Mann, der gern weiß, aus welcher Richtung der Wind weht, dachte sie.
    »Jetzt müssen wir nicht hoffen, daß das gute Wetter anhält, sondern können damit rechnen«, sagte sie zu ihm.
    »An solchen Tagen bin ich nur Frachtgut«, erklärte der Magier. »Außerdem – wer braucht einen Wettermacher, wenn ein Seemann wie Master Serrathen das Schiff befehligt?«
    Wir sind so höflich, dachte sie, ganz Damen und Herren und Meister, ganz Verbeugungen und Komplimente. Sie warf dem jungen König einen Blick zu. Er sah sie lächelnd, aber zurückhaltend an.
    Sie fühlte sich wie damals als Mädchen in Havnor: eine Barbarin, die inmitten der Gewandtheit der anderen unbeholfen war. Aber weil

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