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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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nach einem Augenblick: »Das habe ich nicht gemeint.«
    »Was habt Ihr dann gemeint?«
    »Ich meine, daß ich nicht weiß, was sie ist. Ich meine, daß ich nicht weiß, was sie sieht, wenn sie mich mit dem einen sehenden und dem einen blinden Auge anblickt. Ich sehe, daß Ihr mit ihr herumgeht, als wäre sie ein beliebiges Kind, und ich denke: Wer ist sie? Worin besteht die Stärke dieser Frau – denn sie ist kein Narr –, ein Feuer an der Hand zu halten, mit dem Wirbelwind einen Faden zu spinnen? Es heißt, Mistress, daß Ihr als Kind bei den Alten, den Dunklen, den Gewaltigen gelebt habt und daß Ihr Königin und Dienerin dieser Mächte wart. Vielleicht habt Ihr deshalb keine Angst vor ihr. Ich weiß nicht, ich sage nicht, welche Macht sie besitzt. Aber ich weiß, daß sie über alles hinausreicht, was ich oder Bucher, oder jede Hexe oder jeder Zauberer, den ich je kannte, ihr beibringen kann! Ich gebe Euch meinen Rat, Mistress, frei und kostenlos. Er lautet: Hütet Euch. Hütet sie an dem Tag, da sie ihre Kraft findet! Das ist alles.«
    »Ich danke Euch, Mistress Eppich«, sagte Tenar mit der gesamten Förmlichkeit der Priesterin der Gräber von Atuan und trat aus dem warmen Raum in den scharfen, beißenden Wind des Spätherbstes hinaus.
    Sie war noch immer zornig. Niemand wollte ihr helfen. Sie wußte, daß die Aufgabe ihre Fähigkeiten überstieg, das mußte ihr niemand erklären – aber keiner wollte ihr helfen. Ogion war gestorben, die alte Hexe drosch Phrasen, Eppich warnte, Bucher hielt sich heraus, und Ged – der einzige, der ihr wirklich hätte helfen können –, Ged rannte davon. Rannte davon wie ein geprügelter Hund, schickte ihr nie ein Zeichen oder eine Nachricht, dachte nie an sie oder Therru, sondern nur an seine kostbare Schande. Die war sein Kind, sein Schützling. Das war alles, was ihm am Herzen lag. Tenar hatte ihm nie am Herzen gelegen, er hatte nie an sie gedacht, nur an die Macht – ihre Macht, seine Macht, wie er sie benützen konnte, wie er sie vermehren konnte. Indem er den zerbrochenen Ring zusammenfügte, indem er die Rune heilte, indem er einen König auf den Thron setzte. Und als er seine Macht verloren hatte, konnte er noch immer an nichts anderes denken: daß sie dahin, verloren war, so daß ihm nur er selbst, seine Schande, seine Leere blieben.
    Du bist nicht gerecht, sagte Goha zu Tenar.
    Gerecht! höhnte Tenar. Hat er sich gerecht verhalten?
    Ja, behauptete Goha. Er hat es getan. Oder wenigstens versucht.
    Dann kann er mit den Ziegen, die er hütet, gerecht umgehen; es ist mir gleichgültig, sagte Tenar, während sie im Wind und dem ersten, dünnen, kalten Regen nach Hause stapfte.
    »Heute wird es vielleicht schneien«, meinte ihr Pächter Tiff, als er sie auf der Straße neben den Wiesen des Kahedabachs traf.
    »So früh schon Schnee? Hoffentlich nicht.«
    »Frieren wird es jedenfalls.«
    Als die Sonne untergegangen war, fror es: Regenpfützen und die Tröge der Tränken bekamen eine Haut; dann wurden sie durch das Eis trüb; das Schilf am Kahedabach wurde vom Eis festgehalten und rührte sich nicht; sogar der Wind legte sich, als wäre er gefroren und könne sich nicht bewegen.
    Neben dem Feuer – einem süßeren Feuer als dem Eppichs, denn das Holz stammte von einem alten Apfelbaum, den sie im vergangenen Frühjahr im Obstgarten gefällt hatten – saßen Tenar und Therru, nachdem der Tisch abgeräumt war, spannen und redeten. Als Therru das Rad anwarf, um einen Haufen dunkler seidiger Ziegenwolle zu Vliesgarn zu spinnen, bat sie mit ihrer heiseren Stimme: »Erzähl die Geschichte von den Katzengespenstern.«
    »Das ist eine Sommergeschichte.«
    Therru legte den Kopf schief.
    »Im Winter sollten die Geschichten große Geschichten sein. Im Winter lernt man die Erschaffung von Éa , so daß man sie, wenn der Sommer kommt, bei dem Langen Tanz singen kann. Im Winter lernt man das Winterlied und die Heldentat des Jungen Königs , und beim Fest der Sonnenrückkehr, wenn die Sonne sich nach Norden wendet, um den Frühling zu holen, kann man sie singen.«
    »Ich kann nicht singen«, flüsterte das Mädchen.
    Tenar wand mit geschickten rhythmischen Handbewegungen gesponnenes Garn vom Rocken zu einem Knäuel.
    »Nicht nur die Stimme singt«, erklärte sie. »Der Geist singt. Die hübscheste Stimme der Welt nützt nichts, wenn der Geist nicht die Gesänge kennt.« Sie band das letzte Garnende los, das als erstes gesponnen worden war. »Du besitzt Stärke, Therru, und geistig

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