Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
genug. Ich kann sie nicht heilen. Sie ist … Was wird sie anfangen? Was wird aus ihr werden?« Sie ließ den Faden, den sie spann, auf das Storchbein ablaufen. »Ich habe Angst.«
»Um sie …«, sagte Bucher halb fragend.
»Angst, weil ihre Angst die Ursache dieser Angst anzieht. Angst, weil …«
Aber sie konnte die Worte dafür nicht finden.
»Wenn sie in Angst lebt, wird sie Übles tun«, sagte sie endlich. »Davor fürchte ich mich.«
Der Zauberer überlegte. »Wenn sie die Gabe besitzt, wie ich annehme«, erklärte er schließlich auf seine bescheidene Art, »könnte sie vielleicht ein wenig in der Kunst ausgebildet werden. Als Hexe würde ihr – Aussehen keine solche Rolle spielen. Möglicherweise …« Er räusperte sich. »Es gibt Hexen, die sehr anerkennenswerte Arbeit leisten.«
Tenar ließ ein Stückchen des Fadens, den sie gesponnen hatte, zwischen den Fingern durchlaufen und prüfte seine Gleichmäßigkeit und Stärke. »Ogion befahl mir, sie zu lehren. ›Lehre sie alles‹, sagte er, und dann: ›Nicht Rok.‹ Ich weiß nicht, was er meinte.«
Das bereitete Bucher keine Schwierigkeiten. »Er meinte, daß die Gelehrsamkeit von Rok – die Hohen Künste – sich nicht für ein Mädchen eignen«, erklärte er. »Ganz zu schweigen von einer so Behinderten. Aber wenn er wollte, daß man ihr alles außer diesem Wissen beibringt, fand offenbar auch er, daß ihr Weg sehr wohl der einer Hexe sein kann.« Er überlegte wieder, diesmal fröhlicher, weil er das Gewicht von Ogions Meinung auf seiner Seite wußte. »In ein oder zwei Jahren, wenn sie kräftig genug und noch ein Stückchen gewachsen ist, könntet Ihr Eppich bitten, sie ein wenig zu unterweisen. Aber auch nicht zuviel, bevor sie ihren wahren Namen erhalten hat.«
Tenar widersetzte sich innerlich diesem Vorschlag sofort heftig. Sie schwieg, aber Bucher war feinfühlig. »Eppich ist mürrisch. Aber was sie kann, macht sie ordentlich. Was man nicht von allen Hexen sagen kann. Ihr wißt ja: Schwach wie die Magie der Frauen und böse wie die Magie der Frauen! Aber ich habe Hexen mit echter Heilkraft gekannt. Heilen steht einer Frau an. Es fällt ihr von selbst zu. Und da das Kind selbst so verletzt wurde, könnte es sich dazu hingezogen fühlen.«
Tenar fand seine Güte naiv.
Sie bedankte sich bei ihm und versprach, eingehend über seine Worte nachzudenken. Sie tat es auch.
Die Dörfler des Mitteltals kamen vor Ende des Monats am Rundhaus von Sodeva zusammen, ernannten ihre Gerichtsbeamten und Friedensrichter und legten sich selbst eine Steuer auf, um die Gehälter der Gerichtsbeamten zu bezahlen. So lauteten die Befehle des Königs, die den Bürgermeistern und Dorfältesten überbracht wurden und denen sie bereitwillig gehorchten, denn es gab auf den Straßen genauso viele entschlossene Bettler und Diebe wie immer, und die Dorfbewohner und Bauern konnten es nicht erwarten, daß Ordnung und Sicherheit einkehrten. Häßliche Gerüchte gingen um, zum Beispiel, daß Lord Heno einen Rat der Schurken gebildet hatte und das gesamte Lumpenpack auf dem Land anwarb, damit sie in Banden umherstreiften und den Stadtverordneten des Königs die Köpfe einschlugen; aber die meisten drohten: »Sie sollen es nur versuchen!« Dann erzählten sie einander, daß jetzt ein anständiger Mensch nachts sicher in seinem Bett schlafen könne und daß der König in Ordnung bringe, was im argen liege, obwohl die Steuern unerhört seien und sie für alle Zeit arm bleiben würden, wenn sie sie bezahlen müßten.
Tenar war froh, daß sie dies alles von Lerche erfuhr, schenkte ihm aber keine große Beachtung. Sie arbeitete schwer; seit sie zu Hause war, hatte sie beinahe unbewußt beschlossen, ihr oder Therrus Leben nicht durch die Gedanken an Flinko oder andere Rohlinge stören zu lassen. Sie konnte das Kind nicht ununterbrochen bei sich behalten, seine Angst wieder wecken, es ewig daran erinnern, woran es sich nicht erinnern durfte, wenn es leben wollte. Therru mußte frei sein und wissen, daß sie frei war, um in Würde heranzuwachsen.
Sie hatte allmählich ihre scheue, furchtsame Art abgelegt und ging jetzt allein auf dem Hof herum, über die Nebenstraßen und sogar ins Dorf. Tenar erwähnte nie, daß sie vorsichtig sein solle, obwohl sie sich dazu zwingen mußte. Therru war auf dem Hof in Sicherheit, im Dorf in Sicherheit, niemand würde ihr etwas tun: Das mußte uneingeschränkt gelten. Tenar stellte es tatsächlich nicht oft in Frage. Sie, Shandy und Reinbach
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