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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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beschränkte Stärke ist gefährlich.«
    »Wie die, die nicht lernen wollten«, sagte Therru. »Die Wilden.« Tenar wußte nicht, was sie meinte, und sah sie fragend an. »Diejenigen, die im Westen geblieben sind«, erklärte Therru.
    »Ach – die Drachen im Gesang von der Frau von Kemay. Ja. Genau. Beginnen wir also damit, wie die Inseln aus dem Meer emporgehoben wurden oder wie König Morred die Schwarzen Schiffe zurückschlug?«
    »Die Inseln«, flüsterte Therru. Tenar hatte gehofft, daß sie die Heldentat des Jungen Königs wählen würde, denn sie sah in Lebannens Gesicht Morred; aber das Kind hatte richtig gewählt. »Sehr gut«, sagte sie. Sie blickte zu Ogions großen Sagenbüchern auf dem Kaminsims hinauf und ermunterte sich damit, daß sie die Worte dort finden konnte, falls sie sie vergessen hatte; sie holte Luft und begann.
    Als Schlafenszeit war, wußte Therru, wie Segoy die ersten Inseln aus den Tiefen der Zeit emporgehoben hatte. Statt ihr vorzusingen, sobald sie sie zugedeckt hatte, setzte sich Tenar auf das Bett, und sie sagten gemeinsam leise die erste Strophe des Gesangs von der Erschaffung auf.
    Tenar trug die kleine Öllampe in die Küche zurück und lauschte der vollkommenen Stille. Der Frost hatte die Welt gefesselt, sie eingesperrt. Kein Stern war zu sehen. Gegen das einzige Fenster der Küche drückte sich Schwärze. Auf den Steinböden lag Kälte.
    Sie kehrte zum Feuer zurück, denn sie war noch nicht schläfrig. Die großen Worte des Gesangs hatten ihren Geist aufgewühlt, und der Zorn und die Unruhe, die ihr Gespräch mit Eppich hinterlassen hatten, waren noch immer vorhanden. Sie ergriff den Schürhaken, um dem großen Scheit eine kleine Flamme zu entlocken. Als sie auf das Scheit schlug, ertönte hinter dem Haus ein Echo des Geräuschs.
    Sie richtete sich auf und lauschte.
    Wieder: ein leises dumpfes Pochen oder ein Schlag – außerhalb des Hauses – am Fenster des Melkschuppens …
    Tenar ging mit dem Schürhaken in der Hand durch den dunklen Korridor zur Tür, die in den Kühlraum führte. Jenseits des Kühlraums lag der Melkschuppen. Das Haus war an einen niedrigen Hügel gebaut, und beide Räume reichten wie Keller in den Hügel hinein, lagen aber auf der gleichen Ebene mit dem übrigen Haus. Der Kühlraum besaß nur Belüftungsrohre; der Melkschuppen hatte eine Tür und in einer der äußeren Wände ein niedriges breites Fenster wie das in der Küche. Als sie an der Tür zum Kühlraum stand, hörte sie, wie dieses Fenster gelockert oder aufgebrochen wurde, und vernahm flüsternde Männerstimmen.
    Flint war ein methodischer Hausherr gewesen. Jede Tür seines Hauses besaß auf beiden Seiten einen Schubriegel, eine kräftige Stange aus Gußeisen, die in Gleitschienen lief. Alle waren sauber und wurden regelmäßig geölt; keiner wurde vorgeschoben.
    Sie schob den Riegel vor die Tür des Kühlraums. Er glitt geräuschlos zu und paßte genau in den schweren Eisenschlitz im Türrahmen.
    Sie hörte, wie die äußere Tür des Melkschuppens geöffnet wurde. Einer der Eindringlinge hatte endlich daran gedacht, es an der Tür zu versuchen, bevor sie das Fenster einschlugen, und festgestellt, daß sie nicht versperrt war.
    Sie vernahm wieder Stimmengemurmel. Dann Stille, die so lange dauerte, daß der Herzschlag ihr laut in den Ohren dröhnte und sie befürchtete, keine anderen Geräusche mehr zu hören. Die Beine zitterten ihr unkontrolliert, und die Kälte des Bodens kroch ihr wie eine Hand unter den Rock.
    »Sie ist offen«, flüsterte eine Männerstimme in ihrer Nähe, und ihr Herz setzte schmerzhaft aus. Sie legte die Hand auf den Riegel, weil sie glaubte, daß er offen war – daß sie ihn geöffnet, nicht zugeschoben hatte. Sie wollte ihn gerade zurückziehen, als die Tür zwischen Kühlraum und Melkschuppen knarrte. Sie kannte das Knarren der oberen Angel. Sie kannte auch die Stimme, die gesprochen hatte, doch es war eine andere Art des Erkennens. »Es ist ein Vorratsraum«, sagte Flinko und dann, als die Tür, an der sie stand, gegen den Riegel klapperte: »Die da ist versperrt.« Sie klapperte wieder. Ein dünner Lichtstrahl drang wie eine Messerklinge zwischen Tür und Türrahmen hindurch. Er berührte ihre Brust, und sie wich zurück, als hätte er sie geschnitten.
    Die Tür klapperte wieder, aber nicht sehr laut. Sie war stabil, die Angeln waren kräftig, und der Riegel saß fest.
    Auf der anderen Seite der Tür flüsterten sie miteinander. Sie wußte, daß sie vorhatten, um

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